Owen Meany
lediglich etwas geschehen, was mich zum Neutrum gemacht hat. Mir ist einfach nicht nach »praktizieren« zumute.
Hester ist in gewisser Weise auch Jungfrau geblieben. Owen Meany war
die große Liebe ihres Lebens; nach ihm ließ sie sich auf niemanden mehr so
ernsthaft ein.
Sie sagt: »Hin und wieder hab ich nichts gegen einen netten kleinen
Jungen einzuwenden. Man ist ja schließlich nicht von vorgestern, und da bin ich
natürlich auch für ›safer sex‹; deshalb ist mir [706] eine
›Jungfrau‹ am liebsten. Und die jungen Kerle sollen bloß nicht versuchen, mir
was vorzumachen! Und dann kann man die ja so leicht wieder abschieben – ja die
sind einem sogar noch dankbar. Was könnte besser sein?« fragt mich meine
Kusine. Und ich muß ihr verschmitztes Lächeln erwidern.
Hester the Molester! Ich habe alle ihre
Platten, aber keinen Plattenspieler; ich habe auch alle ihre Kassetten, aber
ich besitze keinen Kassettenrecorder – nicht einmal einen fürs Auto. Ich
besitze auch gar kein Auto. Ich kann mich voll darauf verlassen, daß mich meine
Schülerinnen über Hesters neue Videoclips auf dem laufenden halten.
»Mister Wheelwright! Haben Sie ›Drivin’ with No Hands‹ gesehen?«
Allein die Vorstellung läßt mich erschaudern. Irgendwann sehe ich sie dann
schließlich alle – man kann den verdammten Dingern einfach nicht aus dem Weg
gehen; Hesters Videoclips sind in aller Munde. Selbst Rev. Katherine Keeling
ist danach süchtig! Sie behauptet, es liege daran, daß ihre Kinder sie sich
ansehen, und Katherine will mit den Interessen ihrer Kinder Schritt halten, wie
gräßlich die auch immer sein mögen.
Hesters Videoclips sind wirklich furchtbar. Ihre Stimme ist zwar
nicht besser, aber lauter geworden; die musikalische Begleitung ist angefüllt
mit elektrischen Bässen und anderen Vibrationen, und zusammen mit ihren nasalen
Tönen klingt es wie Hilferufe einer mißbrauchten Frau aus der Tiefe einer
eisernen Tonne. Und die optische Begleitung ist eine
rätselhafte Mischung aus sexuellen Handlungen mit gesichtslosen jungen Männern
und schwarzweißen Dokumentaraufnahmen aus dem Vietnamkrieg. Napalmopfer,
Mütter, die ihre getöteten Kinder im Schoß wiegen, Hubschrauber, wie sie
starten und landen und wie sie mitten in bedrohliches Bodenfeuer stürzen,
Militärärzte im Fronteinsatz, zahllose GI s,
die den Kopf unterm Arm tragen – und dann wieder Hester selbst, die wechselnde
und doch immer gleiche Hotelzimmer betritt oder verläßt, in denen [707] stets ein verlegen dreinblickendes Jüngelchen
gerade seine Kleider anzieht oder ablegt.
Junge Leute in diesem Alter – besonders weibliche, halten Hester the Molester sowohl
für tiefgründig als auch für menschlich.
»Es ist irgendwie nicht nur ihre Musik oder ihre Stimme – es ist
ihre ganze Aussage «, hat eine meiner Schülerinnen zu
mir gesagt; da wurde mir so flau im Magen, daß ich nichts mehr sagen konnte.
»Es sind auch nicht die Texte selbst – es ist, na ja, eben das, was
sie rüberbringt«, meinte eine andere Schülerin. Und das sind clevere Mädchen, gebildete junge Frauen aus kultivierten Familien!
Ich leugne gar nicht, daß das, was Owen zustieß, bei Hester Wunden
hinterlassen hat; sie ist bestimmt der Meinung, ihre Wunden seien noch tiefer
als meine – und da würde ich nicht mit ihr streiten. Es hat uns beide
gezeichnet; für wen es schlimmer war, spielt keine Rolle. Doch welche Ironie
liegt darin, daß Hester the Molester diese
schmerzlichen Erfahrungen in Ruhm und Millionen von Dollar verwandelt hat – daß
sie aus Owens Leiden und aus dem eigenen eine geistlose Mischung von Sex und
Protest gemacht hat, in der sich junge Mädchen, die niemals gelitten haben, »wiedererkennen« können.
Was hätte Owen Meany wohl dazu gesagt? Ich kann mir nur vorstellen,
wie er einen von Hesters Videoclips auseinandergenommen hätte:
»HESTER, AUS DIESEM GEISTLOSEN MIST WÜRDE NIEMAND DEN
SCHLUSS ZIEHEN, DASS DU EINMAL MUSIK ALS HAUPTFACH BELEGT HAST UND SOZIALISTIN
BIST. MAN WÜRDE DIESEM ZUSAMMENHANGLOSEN GEJAULE WOHL EHER ENTNEHMEN, DASS DU
OHNE JEGLICHES GEHÖR FÜR TONHÖHEN GEBOREN WURDEST UND DICH IN DEINEN TEXTEN VOR
ALLEM AUF DEINE ERFAHRUNGEN ALS KELLNERIN STÜTZT!«
Und was hätte Owen Meany wohl von den Kruzifixen gehalten? Hester the Molester mag Kruzifixe, beziehungsweise sie mag
es, sich darüber lustig zu machen – in allen Arten und Größen; um [708] den Hals und an den Ohren. Ab und zu trägt sie
sogar eines an der Nase; in
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