Owen Meany
mir, er würde das
Weihnachtsfest ganz schlicht und ruhig zu Hause verbringen; ich verbrachte es
mit meiner Großmutter und Dan. Laut Owen hatte Hester – ganz spontan – eine
Einladung AN EINEN SONNIGEN ORT angenommen.
»DU SOLLTEST DIR ÜBERLEGEN, OB DU NICHT BEI DER
›FRIEDENSBEWEGUNG‹ MITMACHEN WILLST, ALTER JUNGE«, sagte er zu
mir. Den ALTEN JUNGEN hatte er sich wohl im Fort
Huachuca angewöhnt. »ICH HAB DEN EINDRUCK, DAS IST EINE GUTE
MÖGLICHKEIT, GEBUMST ZU WERDEN. DU BRAUCHST NUR ZERSTREUT AUSZUSEHEN – WENN DU
WÜTEND AUSSIEHST, IST ES AUCH NICHT SCHLECHT – UND STÄNDIG ZU SAGEN, DASS DU
›GEGEN DEN KRIEG‹ BIST. NATÜRLICH KENNE ICH NIEMANDEN, DER [693] WIRKLICH DAFÜR IST –, ABER SAG DU IMMER NUR, DU
BIST ›GEGEN DEN KRIEG‹. UND DU MUSST SO AUSSEHEN, ALS WÜRDE DIR DAS JEDE MENGE
PERSÖNLICHER SORGEN BEREITEN. UND DANN WIRST DU GEBUMST – DARAUF KANNST DU DICH
VERLASSEN!«
Wir übten den Dunking, wieder und wieder; die Erinnerung daran, wie
gut wir waren, raubt mir noch heute den Atem. Ich meine – zack ! – warf er mir den Ball zu. » FERTIG ?«
fragte er dann, und – zack ! – warf ich ihm den Ball
zurück und war bereit, ihn hochzuheben. Es ging automatisch; kaum hatte ich ihm
den Ball zugespielt, war er da – in meinen Armen und stieg hoch in die Luft. Er
machte sich nicht mal mehr die Mühe, » STOPP!« zu
schreien – nicht mehr. Wir brauchten keine Stoppuhr mehr; wir blieben immer
unter drei Sekunden – daran hatten wir keinen Zweifel – und manchmal, glaube
ich, waren wir noch schneller.
»Wie viele Leichen gibt es pro Woche?« fragte ich ihn.
»IN ARIZONA? ICH WÜRDE SAGEN, IM DURCHSCHNITT ZWEI – HÖCHSTENS DREI – PRO WOCHE. MANCHMAL HABEN WIR GAR KEIN OPFER ODER NUR EINS.
UND ICH WÜRDE SCHÄTZEN, DASS DIE HÄLFTE UNSERER OPFER NICHTS MIT VIETNAM ZU TUN
HAT – ES GIBT EINE MENGE AUTOUNFÄLLE, WEISST DU, UND EINIGE SELBSTMORDE.«
»Und wieviel Prozent der Leichen sind nicht – wie hast du das noch
mal ausgedrückt? – zum Anschauen geeignet?« wollte ich wissen.
»VERGISS DIE LEICHEN«, meinte Owen. »DAS IST NICHT DEIN PROBLEM – DEIN PROBLEM IST, DASS DIR DIE ZEIT
DAVONLÄUFT. WAS MACHST DU, WENN DU NICHT LÄNGER ZURÜCKGESTELLT WIRST? HAST DU
SCHON EINEN PLAN? WEISST DU ÜBERHAUPT, WAS DU TUN WILLST – WENN ES EINEN
WEG GIBT, ES ZU TUN? ICH KANN MIR NICHT VORSTELLEN, DASS ES DIR IN DER ARMEE
GEFÄLLT. ICH WEISS, DASS DU NICHT NACH VIETNAM WILLST. ABER IM PEACE CORPS SEHE ICH
DICH AUCH NICHT. BIST DU BEREIT, NACH KANADA ZU GEHEN? MIR KOMMT ES JEDENFALLS
NICHT SO [694] VOR. DU WIRKST NICHT MAL WIE EIN
RICHTIGER PROTESTIERER. DU BIST WAHRSCHEINLICH DIE EINZIGE PERSON, DIE SICH DEM
HAUFEN ANSCHLIESST, DEN HESTER ›FRIEDENSBEWEGUNG‹ NENNT, UND ES SCHAFFT, NICHT GEBUMST ZU WERDEN. ICH KANN MIR
NICHT VORSTELLEN, DASS DU BEI DEN ARSCHLÖCHERN RUMHÄNGST – ICH KANN MIR NICHT
VORSTELLEN, DASS DU BEI IRGEND JEMANDEM RUMHÄNGST. ICH WILL DAMIT SAGEN, WENN
DU DIE DINGE AUF DEINE WEISE ANGEHEN WILLST, DANN MUSST DU EINE ENTSCHEIDUNG TREFFEN – DU
MUSST DEINEN MUT ZUSAMMENNEHMEN!«
»Ich möchte weiterstudieren«, sagte ich ihm. »Ich möchte Lehrer
werden. Ich bin nur jemand, der gern liest«, sagte ich.
»DU BRAUCHST DAS NICHT SO VERSCHÄMT ZU SAGEN«, meinte
er. »LESEN KÖNNEN IST EIN GESCHENK.«
»Ich hab es von dir gelernt«, rief ich ihm in Erinnerung.
»IST DOCH EGAL, VON WEM DU ES GELERNT HAST – ES IST
EIN GESCHENK. WENN DIR ETWAS AM HERZEN LIEGT, DANN MUSST DU ES BESCHÜTZEN – UND
WENN DU SOVIEL GLÜCK HAST, EINE ART ZU LEBEN ZU FINDEN, DIE DIR GEFÄLLT, DANN
MUSST DU DEN MUT HABEN, SIE AUCH ZU LEBEN .«
»Wozu sollte ich Mut brauchen?« fragte ich
ihn.
»DU WIRST IHN BRAUCHEN«, sagte
er mir. »WENN DU AUFGEFORDERT WIRST, DICH ZUR MUSTERUNG ZU
MELDEN, DANN BRAUCHST DU MUT. NACH DER MUSTERUNG – WENN DU ›VOLLTAUGLICH‹
GEMUSTERT BIST – DANN IST ES EIN BISSCHEN ZU SPÄT, UM EINE ENTSCHEIDUNG ZU
TREFFEN. WENN DU EINMAL GEMUSTERT BIST, DANN BRINGT DIR EIN BISSCHEN MUT AUCH
NICHT MEHR VIEL. DENK MAL DRÜBER NACH, ALTER JUNGE.«
Vor Silvester meldete er sich in Fort Huachuca zurück; Hester blieb
weg, wo immer sie war, und ich verbrachte Silvester allein – Großmutter sagte,
sie sei zu alt, um so lange aufzubleiben und das neue Jahr zu begrüßen. Ich
habe mich nicht betrunken, aber einen Schluck habe ich mir genehmigt. Hesters
Verunstaltung des [695] Rosengartens war schon zu
einer Tradition geworden; ihre Abwesenheit, und auch die
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