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Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Hand zur Faust, hielt die anderen Finger mit dem Daumen fest und
streckte den Zeigefinger vor. » SO «, sagte er. » DER KNÖCHEL DES MITTELFINGERS, DER DARF MIR NICHT IM WEG SEIN .«
Ich konnte weder sprechen noch mich bewegen; Owen Meany sah mich an. » TRINK BESSER NOCH EIN BIER «, sagte er. »ZUM LESEN REICHEN DIR DIE ANDEREN FINGER AUCH – DIE SEITEN KANNST
DU MIT JEDEM FINGER UMBLÄTTERN«, meinte er. Er konnte sehen, daß
ich den Mut nicht aufbrachte.
    »ES IST SO WIE BEI ALLEM ANDEREN AUCH – WIE BEI DER
SUCHE NACH DEINEM VATER. MAN BRAUCHT MUT – UND GLAUBEN«, fügte er
hinzu. »GLAUBE IST NICHT SCHLECHT, ABER DU, DU SOLLTEST
ERST MAL DEINEN MUT ZUSAMMENNEHMEN. WEISST DU, ICH HAB ÜBER DEINEN VATER
NACHGEDACHT – ERINNERST DU DICH NOCH AN DIE ›WOLLUST-FÄHRTE‹? WER DEIN VATER
AUCH WAR, ER MUSS DIESES PROBLEM GEHABT HABEN – ES IST ETWAS, DAS DU BEI DIR
SELBST AUCH NICHT MAGST. NA JA, WER ES AUCH IMMER WAR, ICH SAG DIR, ER HATTE
WAHRSCHEINLICH ANGST. UND DAS IST AUCH ETWAS, WAS DU AN DIR NICHT MAGST. WER
AUCH IMMER DEINE MUTTER WAR, ICH WETTE, SIE HATTE NIEMALS ANGST «,
sagte Owen Meany. Ich konnte nicht nur weder sprechen noch mich bewegen, ich
konnte jetzt auch nicht mehr schlucken. » WENN DU KEIN
ZWEITES BIER MEHR WILLST«, sagte Owen, » DANN TRINK
WENIGSTENS DAS DA LEER!«
    Ich trank es leer. Er deutete auf das Waschbecken.
    »WASCH DIR AM BESTEN DIE HAND – SCHRUBB SIE GUT AB«, meinte
er. »UND DANN REIB SIE MIT ALKOHOL EIN.«
    Ich tat, was er sagte.
    »ES WIRD KEINE PROBLEME GEBEN«, sagte er. »ICH HAB DICH
    IN FÜNF MINUTEN IM KRANKENHAUS – UNTER ZEHN MINUTEN. [701]  MEIN
     WORT! WELCHE BLUTGRUPPE HAST DU?« fragte er mich; ich schüttelte
    den Kopf – ich wußte es nicht. Owen lachte. » ICH WEISS ES – DU
     ERINNERST DICH AUCH AN GAR NICHTS ! DU HAST DIE GLEICHE
BLUTGRUPPE WIE ICH! WENN DU WELCHES BRAUCHST, KANNST DU ES VON MIR HABEN .«
Ich konnte mich nicht vom Waschbecken wegbewegen.
    »ICH WOLLTE ES DIR EIGENTLICH NICHT SAGEN – ICH
WOLLTE DICH NICHT BEUNRUHIGEN – ABER DU BIST IN MEINEM TRAUM. ICH VERSTEHE
NICHT, WIE DU DA REINKOMMST, ABER DU BIST DRIN – UND ZWAR JEDES MAL«, sagte er.
    »In deinem Traum?« fragte ich ihn.
    »ICH WEISS, DU
DENKST, ES IST ›NUR‹ EIN TRAUM – DAS WEISS ICH – ABER ES STÖRT MICH, DASS DU DRIN BIST. ICH DENKE«, meinte
Owen Meany, »WENN DU NICHT NACH VIETNAM GEHST, DANN KANNST DU NICHT IM TRAUM
SEIN.«
    »Du bist total verrückt, Owen«, sagte ich; er zuckte mit den
Schultern, dann lächelte er mich an.
    »ES IST DEINE ENTSCHEIDUNG «,
wiederholte er.
    Ich ging vom Waschbecken zur Werkbank; die Diamantscheibe war so
hell, daß ich sie nicht ansehen mochte. Ich legte meinen Finger auf den
Holzblock. Owen ließ die Scheibe laufen.
    »GUCK NICHT AUF DIE SCHEIBE UND AUCH NICHT AUF DEINEN
FINGER«, sagte er zu mir. »GUCK MICH
AN.« Ich schloß die Augen, als er sich die Schutzbrille
aufsetzte. »MACH DIE AUGEN NICHT ZU – DA KÖNNTE DIR SCHWINDLIG WERDEN«, riet er mir. »GUCK MICH AN. DAS EINZIGE, WOVOR
    DU ANGST HABEN SOLLTEST, IST, DASS DU DICH BEWEGST – DU DARFST DICH AUF GAR KEINEN FALL BEWEGEN«, sagte er. »WENN DU ETWAS SPÜRST, IST ALLES SCHON VORBEI.«
    »Ich kann es nicht«, sagte ich.
    »HAB KEINE ANGST«, sagte Owen zu mir. »DU KANNST ALLES TUN , WAS DU WILLST – WENN DU DARAN GLAUBST, DASS DU ES TUN KANNST.«
    [702]  Die Gläser seiner
Schutzbrille waren ganz sauber; seine Augen strahlten klar.
    »ICH LIEBE DICH «, sagte Owen zu mir. » DIR WIRD NICHTS PASSIEREN – VERTRAU MIR .« Als er die
Diamanttrennscheibe in der Halterung herabließ, versuchte ich, das Geräusch zu
ignorieren. Ehe ich etwas spürte, sah ich, wie das Blut auf die Gläser der
Schutzbrille spritzte, wobei er nicht einmal blinzelte – so sicher ging er mit
dem Ding um. » BETRACHTE ES EINFACH ALS MEIN KLEINES GESCHENK AN
DICH «, sagte Owen Meany.

[703]  9
    Der Schuß
    Immer wenn ich jemanden in Gemeinplätzen von den sechziger
Jahren schwärmen höre, fühle ich mich wie Hester, ist mir, als müsse ich mich
übergeben. Ich kann mich noch gut an die leidenschaftlichen Einfaltspinsel
erinnern, die erklärten – und zwar nach dem Massaker
an 2800 Zivilisten in Hue 1968 –, der Vietkong und die Nordvietnamesen seien
uns moralisch überlegen. Ich weiß noch, wie mich damals einer meiner
Altersgenossen auf eine tödlich humorlose Art fragte, ob ich nicht bisweilen
dächte, daß unsere ganze Generation sich selbst zu ernst nähme; und fragte

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