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Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Kollegen sie nicht
mehr verwenden konnten. Ich habe sie durchschaut. Sie ist eine von
denen, die meinen, wenn man kanadische Autoren im [729]  Kurs
über kanadische Literatur behandelt, zeuge das von einer herablassenden Haltung
den Kanadiern gegenüber – da man sie aus den anderen Literaturkursen
ausklammert. Und wenn man sie in einem anderen Kurs »ausschlachtet«, fragt sie
einen sofort, ob man denn meine, daß mit der kanadischen Literatur irgend etwas
nicht in Ordnung sei, und erklärt, man verhalte sich herablassend den Kanadiern
gegenüber. Das liegt alles nur daran, daß ich Amerikaner bin, und Amerikaner
mag sie nicht; das ist völlig offensichtlich – das und die Tatsache, daß ich
Junggeselle bin, allein lebe und nicht alles daransetze, mit ihr auszugehen.
Sie ist eine dieser herrischen Frauen, für die es eine willkommene Gelegenheit
ist, einen zu erniedrigen, wenn man sie tatsächlich fragt, ob sie mit einem
ausgehen würden; und wenn man sie nicht fragt, ist
das ein noch triftigerer Grund, zu Erniedrigungen zu greifen.
    Das alles erinnert mich an einen Vorfall vor ein paar Jahren, an
eine Frau aus New York, die mich ihrerseits an Mitzy Lish erinnerte. Sie kam
mit ihrer Tochter hier an, um sie an der Bishop Strachan School vorzustellen;
die Mutter wollte mit einer Lehrkraft sprechen, die Englisch unterrichtete, um
sich – wie sie der Schulleiterin erklärte – davon zu überzeugen, daß wir kein
»provinzielles« Literaturverständnis verfochten. Diese Frau war ein
überschäumendes Gemisch sexueller Widersprüche. Vor allem wollte sie, daß ihre
Tochter eine kanadische Schule besuchte – »eine von diesen altmodischen
Schulen«, wie sie sagte –, weil sie das Kind von den Gefahren einer Jugend in
New York bewahren wollte. Die Schulen in Neuengland seien alle voller
Jugendlicher aus New York; es sei tragisch, daß sich einem jungen Mädchen nicht
die Gelegenheit biete, in den Genuß der Werte und Tugenden einer geistig
gesünderen, ungefährlicheren Zeit zu kommen.
    Andererseits gehörte sie zu den New Yorkern, die meinen, sie müßten
»sterben«, wenn sie auch nur eine Minute außerhalb von New York verbrachten –,
die sicher sind, daß der Rest der Welt eine provinzielle Einöde ist, in der
Menschen ihres Schlages, die [730]  über einen fein
ausgebildeten Geschmack und höchst Urbane Energie verfügten, an den Marterpfahl
altmodischer Wert- und Tugendvorstellungen gebunden würden, bis sie vor
Langeweile den Geist aufgaben.
    »Ganz im Vertrauen«, flüsterte sie mir zu, »was macht ein erwachsener Mensch eigentlich hier?« Sie meinte wohl, hier in
Toronto, und überhaupt hier in Kanada… in dieser Wildnis, sozusagen. Und doch
wollte sie ihre Tochter unbedingt hierher in die Verbannung schicken, um sie
nicht mit den gleichen augenöffnenden Einsichten zu konfrontieren, die aus
ihrer Mutter eine Gefangene New Yorks gemacht hatten!
    Sie war ziemlich besorgt, als sie sah, wie viele kanadische Autoren
auf unserer Leseliste standen; da sie sie nicht gelesen hatte, witterte sie
sofort finstersten Provinzialismus. Die Tochter lernte ich nie kennen; die war
vielleicht ganz nett – sicher ein wenig besorgt darum, wie sehr ihr das Heimweh
zu schaffen machen würde, aber möglicherweise durchaus nett. Die Mutter schrieb
sie dann doch nicht an unserer Schule ein, obwohl ihre Bewerbung positiv
beschieden wurde. Vielleicht ist ja die Mutter nur aus einer Laune heraus nach
Kanada gekommen – ich kann schließlich auch nicht behaupten, aus wirklich
überzeugenden Gründen hierhergekommen zu sein! Vielleicht hat sie ihre Tochter nicht
eingeschrieben, weil sie (die Mutter) fürchtete, die Entbehrungen nicht
ertragen zu können, an denen sie (die Mutter) leiden würde, wenn sie ihre
Tochter in dieser Wildnis besuchte.
    Ich sah den Grund dafür, daß sie das Kind nicht auf unsere Schule schickte,
in etwas anderem. Die Mutter hatte es auf mich abgesehen! Es war schon eine
Weile her, daß sich zum letzten Mal eine Frau für mich interessiert hatte; ich
begann mich bereits mit dem Gedanken anzufreunden, daß diese Gefahr für mich
nicht mehr bestand, doch da fragte mich plötzlich die Mutter: »Was macht man
hier – wenn man sich vergnügen möchte? Hätten Sie Lust, mir das zu zeigen?«
    [731]  Die Schule hatte einige
unübliche, ja geradezu außergewöhnliche Vorkehrungen getroffen, um es der
Tochter zu ermöglichen, eine Nacht in einem der Internatsschlafräume zu
verbringen – so würde sie ein paar

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