Owen Meany
von den Mädchen kennenlernen, ein paar von
den anderen Amerikanerinnen… so was in der Art. Die Mutter erkundigte sich, ob
ich für »einen Abend in der Stadt« zur Verfügung stehe!
»Ich bin geschieden«, fügte sie hastig – und überflüssigerweise – an; das wollte ich auch gemeint haben! Aber trotzdem!
Ich will nicht so tun, als besäße ich auch nur ansatzweise die
Fähigkeit, mich solch kühnen Einladungen zu entziehen; da fehlt es mir an
praktischer Erfahrung. Ich habe wahrscheinlich reichlich tolpatschig reagiert;
ohne Zweifel habe ich der Frau noch ein weiteres überzeugendes Beispiel für den
»Provinzialismus« geliefert, dem man ihrer Meinung nach außerhalb von New York
unweigerlich begegnet.
Unsere Begegnung nahm jedenfalls ein bitteres Ende. Aus ihrer Sicht
war es äußerst mutig gewesen, mir Avancen zu machen; daß ich nicht den Mut
aufbrachte, ihr großherziges Angebot anzunehmen, machte mich in ihren Augen zum
Inbegriff der Feigheit. Nachdem sie mir die Ehre ihres verführerischen Charmes
erwiesen hatte, fühlte sie sich nun berechtigt, ihre nicht unbeträchtliche
Verachtung über mich zu ergießen. Sie sagte zu Katherine Keeling, unsere
Leselisten seien »noch provinzieller«, als sie befürchtet hatte. Man kann mir
glauben: es waren nicht die Leselisten, die sie »provinziell« fand – ich war es! Ich war nicht helle genug, eine Gelegenheit,
die sich mir bot, beim Schopf zu ergreifen.
Und jetzt muß ich als Kollegin, mit der ich ständig zu tun habe,
eine Frau ertragen, die über ein ähnliches Naturell zu verfügen scheint, eine
Frau, deren widerborstige Art ebenfalls die Ausdünstung brodelnder sexueller
Widersprüche ist… Eleanor Pribst!
Sie stritt sogar mit mir, weil ich Robertson Davies’ ersten Roman Tempest-Tost behandelte; sie deutete an, ich tue dies
ihrer [732] Meinung nach deshalb, weil mir nicht
klargeworden war, daß der spätere, Der Fünfte im Spiel, »besser« war. Natürlich habe ich beide Romane – und viele andere Werke von
Robertson Davies – mit großem, ja sogar mit außerordentlichem Vergnügen im
Unterricht behandelt. Ich erklärte, es habe sich in der Vergangenheit als
glückliche Wahl erwiesen, Tempest-Tost zu behandeln.
»Schüler kommen sich auch oft vor wie Amateure«, sagte ich. »Ich glaube, für
sie sind all die Intrigen in der Laienschauspielgruppe zugleich etwas äußerst
Lustiges und etwas höchst Vertrautes.« Doch Ms. Pribst wollte wissen, ob ich
Kingston kenne; sicher wisse ich zumindest, daß Kingston offensichtlich als
Vorbild für den Romanschauplatz Salterton gedient hatte. Ich hatte gehört, daß
dies so sei, erklärte ich, obwohl ich selbst noch nie in Kingston gewesen sei.
»Sie sind nie dort gewesen?!« rief sie
aus. »Da sieht man, was dabei herauskommt, wenn man Amerikaner Can Lit unterrichten läßt!«
»Ich finde die Bezeichnung ›Can Lit‹ für kanadische Literatur
abscheulich«, sagte ich zu Ms. Pribst. »Wir sprechen bei amerikanischer
Literatur auch nicht von ›Am Lit‹, und ich sehe keinen Anlaß, die höchst
interessante Literatur dieses Landes auf sechs abfällige Buchstaben zu
reduzieren. Außerdem«, fuhr ich fort, »betrachte ich Robertson Davies als einen
Autor von so grundlegender Bedeutung, daß ich es für wichtig halte, nicht das
›Kanadische‹ an seinen Büchern zu betonen, sondern das Wunderbare an ihnen.«
Danach herrschte Krieg. Sie verlangte, daß ich von Orwell Farm der Tiere behandelte statt Tage in
Burma. 1984 und Farm der Tiere seien von
»bleibender Bedeutung«, meinte sie; Tage in Burma hingegen nur ein »schlechter Ersatz«.
»Orwell ist Orwell«, hielt ich dagegen, »und Tage
in Burma ist ein guter Roman.«
Doch Ms. Pribst – eine Absolventin des Queen’s College (daher [733] ihre detaillierten Kenntnisse von Kingston) – promoviert an der Universität Toronto über ein Thema, das irgendwie mit »Politik
im Roman« zusammenhängt. Ich hätte doch über Hardy geschrieben, fuhr sie fort – und machte durch den Ton deutlich, daß sie »nur
über Hardy« meinte – und daß es nur meine
Magisterarbeit gewesen sei.
Und so fragte ich meine alte Freundin Katherine Keeling: »Meinen
Sie, Gott hat Eleanor Pribst geschaffen, um mich auf die Probe zu stellen?«
»Sie sind reichlich ungezogen«, erwiderte Katherine. »Seien Sie
nicht auch noch gemein.«
Wenn ich »gemein« sein will, zeige ich meinen Finger; falsch – ich
zeige, was fehlt, ich zeige das Nicht-Vorhandensein meines Fingers.
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