Owen Meany
Diesen
Trick werde ich mir für meine nächste Begegnung mit Ms. Pribst aufheben. Ich
bin Owen Meany für so vieles dankbar; nicht nur dafür, daß er mich vor Vietnam
bewahrt hat – er hat mir ein perfektes Lehrinstrument verschafft, mit dem ich
todsicher wieder die Aufmerksamkeit auf mich lenken kann, wenn die Klasse mir
nicht mehr folgt. Ich hebe einfach die Hand und deute irgendwohin. Das Fehlen
des Zeigefingers macht es für mich zu einer interessanten und fesselnden Sache,
irgendwohin zu deuten. Im Nu sind aller Augen auf mich gerichtet. Das
funktioniert auch in Lehrerkonferenzen ausgezeichnet.
»Zeig nicht mit dem Ding auf mich!« sagte
Hester gern zu mir.
Aber es war nicht ›das Ding‹, das sie aufregte, entnervend war das,
was fehlte! Die Amputation war sehr sauber durchgeführt – der sauberste
Schnitt, den man sich vorstellen kann. Der Stumpf hat nichts Groteskes oder
Verstümmeltes an sich – ja er wirkt noch nicht einmal wund. Das einzige, was
mit mir nicht stimmt, ist, daß etwas fehlt. Owen Meany fehlt.
Es war, nachdem Owen mir den Finger abgeschnitten hatte – gegen
Ende des Sommers 1967, als er für ein paar Tage auf Urlaub [734] in Gravesend war; da sagte Hester zu ihm, sie
würde nicht zu seiner Beerdigung gehen; das lehne sie rundweg ab.
»Ich werde dich heiraten und nach Arizona ziehen – ich werde dir überallhin folgen, Owen«, sagte Hester. »Stell dir vor,
ich als Braut in einer Kaserne! Stell dir vor, wie wir ein anderes jung
verheiratetes Paar zu Gast haben – wenn du gerade nicht unterwegs bist, um eine Leiche zu begleiten! Nenn mich doch einfach Hester
Huachuca!« rief sie ihm zu. »Ich werde sogar schwanger – wenn
du das möchtest, Owen. Hättest du gerne Kinder? Ich werde welche von dir
kriegen!« schrie Hester. »Ich tu alles für dich – das weißt du doch. Aber zu
deiner Scheißbeerdigung geh ich nicht.«
Hester hielt Wort; bei seiner Beerdigung war sie nicht zugegen – Hurd’s Church war bis auf den letzten Platz gefüllt, doch Hester war nicht in
der Menge. Er hatte sie nie gebeten, ihn zu heiraten, hatte nie von ihr
verlangt, nach Arizona zu ziehen oder anderswohin. »DAS WÄRE
NICHT FAIR – ICH MEINE, ES WÄRE IHR GEGENÜBER NICHT FAIR«, hatte Owen mir erklärt.
Im Herbst 1967 traf Owen eine Vereinbarung mit Major General LaHoad;
er wurde nicht zu seinem Adjutanten ernannt – LaHoad
war zu stolz auf die Belobigungen, die Owen als Rückführungsoffizier erhielt.
Der Major General sollte in achtzehn Monaten versetzt werden; wenn Owen in Fort
Huachuca blieb – als »bester« Rückführungsoffizier der Abteilung – versprach
ihm LaHoad, würde er ihm »einen guten Job in Vietnam« verschaffen. Achtzehn
Monate war ziemlich lang, doch First Lieutenant Meany fand, daß sich das Warten
lohnen würde.
»Weiß er denn nicht, daß es in Vietnam keine ›guten Jobs‹ gibt?« fragte Hester mich. Das war im Oktober; wir waren zusammen
mit 50 000 anderen Kriegsgegnern auf der Demonstration in Washington. Wir
sammelten uns gegenüber dem Lincoln Memorial und marschierten zum Pentagon, wo
wir von einem Aufgebot von Polizei und Militärpolizei empfangen wurden; [735] selbst auf dem Dach des Pentagon waren Polizisten
postiert. Hester trug ein Plakat:
HELFT UNSEREN JUNGS
HOLT DIE GI’S NACH HAUS!
Ich trug nichts; ich war immer noch ein wenig gehemmt wegen
meines fehlenden Fingers. Das Narbengewebe war noch so frisch, daß der Stumpf
bei jeder Anstrengung entzündet aussah. Doch ich versuchte mich als Teil der
Demonstration zu fühlen; nur fühlte ich mich bedauerlicherweise nicht als Teil
davon – ich fühlte mich überhaupt nicht als Teil von irgendwas. Ich war
untauglich; ich würde nie in den Krieg gehen müssen, und auch nicht nach
Kanada. Dadurch, daß er einfach die ersten beiden Glieder meines rechten
Zeigefingers abtrennte, hatte Owen Meany mich in die Lage versetzt, mich von
meiner eigenen Generation völlig losgelöst zu fühlen.
»Wenn er auch nur halb so schlau wäre, wie er selbst meint«, sagte
Hester zu mir, als wir uns dem Pentagon näherten, »hätte er seinen eigenen
Zeigefinger gleich mit abgeschnitten – dann hätte er so viele Finger
abgeschnitten, wie nötig gewesen wäre. So hat er dich gerettet – Glück für dich !« meinte sie. »Wieso ist er nicht so helle, auch sich
selbst zu retten?«
Was ich in diesem Oktober in Washington zu sehen bekam, waren eine
Menge Amerikaner, die aufrichtig bestürzt waren über das, was ihr Land
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