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Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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ganzen Haus.
    Als ich aus dem Fenster blickte, sah ich keinen Hund. Dann ging ich
in den Hobbyraum – so wurde dieses Zimmer genannt, als mein Großvater noch
lebte. Später fungierte es als eine Art Kinderspielzimmer und als Ort, in dem
meine Mutter ihr altes Grammophon spielen ließ und mit Frank Sinatra und dem
Tommy Dorsey Orchestra mitsang. Auf die Couch in diesem Zimmer hatte Hester
sich hingestreckt und gewartet, während Noah, Simon und ich das ganze Haus
vergeblich nach Owen Meany absuchten. Wir hatten nie herausbekommen, wo sie ihn
oder er sich versteckt hatte. Ich legte mich auf die alte Couch und ließ all
diese Erinnerungen Revue passieren. Dann muß ich eingeschlafen sein; es war
eine äußerst geschichtsträchtige Couch, auf der mir, wie ich mich erinnerte,
meine Mutter zum ersten Mal ins Ohr geflüstert hatte: »Mein kleines
Techtelmechtel!«
    Als ich aufwachte, war meine rechte Hand unter eines der dicken
Polster gerutscht; mein Handgelenk spürte etwas, das sich wie eine Spielkarte
anfühlte, doch als ich es hervorzog, sah ich, daß es ein Überbleibsel aus Owen
Meanys geliebter Sammlung war: [725]  eine uralte,
geknickte Baseballsammelkarte. Hank Bauer! Wer kennt den noch? Die Karte war
1950 gedruckt worden, als Bauer achtundzwanzig war und in seiner zweiten Saison
als Feldspieler für die Yankees. Er sah allerdings älter aus; vielleicht lag
das am Krieg – er war vom Baseballfeld weg in den Weltkrieg gezogen und danach
aufs Spielfeld zurückgekehrt. Obwohl ich kein Baseballfan bin, erinnerte ich
mich an Hank Bauer als einen zuverlässigen, soliden Spieler –, und sein ein
wenig müdes, sonnengebräuntes Gesicht spiegelte eine solide Arbeitshaltung
wider. In seinem geduldigen Lächeln schwangen keine Starallüren mit, und er
verbarg seine Augen nicht unter dem Schirm seiner Baseballmütze, die er so weit
nach hinten geschoben hatte, daß seine nachdenkliche, faltige Stirn zu sehen
war. Es war eines dieser alten, optimistisch kolorierten Fotos – er war eine
Spur zu braungebrannt, der Himmel eine Spur zu blau, die Wolken zu einheitlich
weiß. Die hohen, flaumigen Wolken und das strahlende Blau des Himmels gaben für
Hank Bauer in seinem weißen, fein gestreiften Trikot einen so beeindruckend
unrealistischen Hintergrund ab – es sah aus, als wäre er gestorben und zum
Himmel emporgestiegen.
    Natürlich war mir augenblicklich klar, wo Hester Owen Meany
versteckt hatte; er hatte, während wir ihn suchten, die ganze Zeit unter den
Polstern gelegen – und unter ihr ! Das erklärte auch,
warum er dann einen so zerknitterten Anblick geboten hatte, warum sein Haar
völlig verwuschelt gewesen war. Die Hank-Bauer-Karte muß ihm aus der Tasche
gefallen sein. Entdeckungen wie diese – gar nicht zu reden davon, wie Owens
Stimme im Geheimgang zu mir »gesprochen« hatte und wie mich seine Hand (oder
etwas wie eine Hand) zu packen schien – jagen mir ab und zu etwas Angst vor dem
Haus in der Front Street ein.
    Ich weiß, daß Großmutter gegen Ende Angst vor dem alten Haus hatte.
»Zu viele Gespenster!« murmelte sie immer vor sich hin. Letztlich war sie wohl
doch froh, nicht von einem Wahnsinnigen
»hingemeuchelt« worden zu sein – was sie einst einem [726]  Auszug
aus dem Haus in der Front Street vorgezogen hätte. Sie verließ das alte Haus
ziemlich ruhig, als es soweit war; sie trug es mit Gelassenheit. »Zeit zu
gehen«, sagte sie zu Dan und mir. »Zu viele Gespenster!«
    Im Seniorenwohnheim verfiel sie schnell und ohne großes Leiden.
Zuerst vergaß sie alles, was mit Owen zu tun hatte, dann vergaß sie mich; auch
meine Mutter war ihr durch nichts mehr in Erinnerung zu rufen – außer durch
meine recht geschickte Imitation von Owens Stimme. Diese Stimme versetzte ihrem
Gedächtnis einen Stoß; diese Stimme holte, fast jedesmal, ihre Erinnerungen an
die Oberfläche. Sie starb im Schlaf, nur zwei Wochen vor ihrem hundertsten
Geburtstag. Sie hatte nichts für »auffällige« Dinge übrig, hatte zum Beispiel
häufig gesagt: »Diese Frisur fällt auf, daß es zum
Himmel schreit!«
    Ich kann mir vorstellen, was sie über ihren hundertsten Geburtstag
gedacht hat; die Familienfeier, die zu ihren Ehren geplant war, hätte
Großmutter sicher umgebracht – ich glaube, das wußte
sie. Tante Martha hatte bereits das Fernsehen informiert; in der Today Show wird nämlich jedem, der in den Vereinigten
Staaten hundert wird, zum Geburtstag gratuliert, vorausgesetzt, die Today Show erfährt davon. Tante Martha

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