Owen Meany
widmete ihm ihre volle
Aufmerksamkeit. Ich wußte natürlich, was sich in ihm verändert hatte; er hatte
seinen verlorenen Glauben wiedergefunden – er sprach jedes Wort mit absoluter
Glaubensgewißheit aus; deshalb stotterte er nicht ein einziges Mal.
Als er den Blick vom Gebetbuch hob, begann er mit den Armen zu
gestikulieren wie jemand, der Brustschwimmen übt, und die Finger seiner rechten
Hand reichten in den Lichtstrahl, der durch das Baseball-Loch im Chorfenster
hereindrang; und als Mr. Merrills Finger diesen Lichtstrahl immer wieder
durchschnitten, funkelte Owen Meanys Medaille.
»›Der Geist des Herrn ist auf mir, weil der Herr mich gesalbt hat.
Er hat mich gesandt, den Elenden gute Botschaft zu bringen…‹« las Pastor
Merrill. »›…die zerbrochenen Herzen zu verbinden‹«, rief Mr. Merrill, der
keinen Zweifel mehr hatte – seine Zweifel waren nicht mehr da, sie waren
verschwunden, für immer! Er machte fast keine Pause, um Luft zu holen. »›… zu
trösten alle Trauernden‹«, verkündete er.
Aber Mr. Merrill war noch nicht zufrieden; er muß gespürt haben, daß
Jesaja allein für uns noch nicht Trost genug war. Mein Vater meinte, wir
sollten uns auch vom Klagelied Jeremia trösten lassen, aus dem er las: »›Denn
der Herr ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und dem Menschen, der nach ihm
fragt.‹« Und als könne dieser Happen unseren Hunger nach Trost nicht stillen,
führte uns Pastor Merrill weiter in das Klagelied hinein: »›Denn der Herr
verstößt nicht ewig; sondern er betrübt wohl und [780] erbarmt
sich wieder nach seiner großen Güte. Denn nicht von Herzen plagt und betrübt er
die Menschen.‹«
Die Finger an der blassen Hand meines Vaters strichen, Elritzen
gleich, immer wieder durch den Sonnenstrahl, der hereindrang, und Owens
Medaille blinkte rhythmisch zu uns herüber, wie der Lichtstrahl eines
Leuchtturms. Dann ermahnte uns Pastor Merrill mit dem bekannten Psalm: »›Der
Herr behüte deinen Ausgang und Eingang von nun an bis in Ewigkeit.‹«
So führte er uns weiter ins Neue Testament, wo er mit der mutigen
Aussage aus dem Römerbrief begann: »›Denn ich bin überzeugt, daß dieser Zeit
Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns
offenbart werden soll.‹« Doch Lewis Merrill kannte kein Halten mehr; denn wir
vermißten Owen Meany schrecklich, sehnten uns furchtbar nach ihm, und Pastor
Merrill hielt nicht inne, ehe er uns klargemacht hatte, daß Owen in eine
bessere Welt eingegangen war. Mein Vater stürzte sich voller Elan in den ersten
Korintherbrief.
»›Nun aber ist Christus auferstanden von den Toten…‹« versicherte
uns Pastor Merrill. »›Denn da durch einen Menschen der Tod gekommen ist, so
kommt auch durch einen Menschen die Auferstehung der Toten‹«, sagte mein Vater.
Großmutter hielt meinen amputierten Finger weiter fest umklammert,
und selbst Simons Gesicht war naß von Tränen; und noch immer gönnte uns Pastor
Merrill keine Pause – geschwind verwies er uns auf den zweiten Korintherbrief.
»›Darum werden wir nicht müde‹«, las er. »›Sondern wenn auch unser
äußerer Mensch verfällt, so wird doch der innere von Tag zu Tag erneuert. Denn
unsre Trübsal, die zeitlich und leicht ist, schafft eine ewige und über alle
Maßen gewichtige Herrlichkeit uns, die wir nicht sehen auf das Sichtbare,
sondern auf das Unsichtbare. Denn was sichtbar ist, das ist zeitlich; was aber
unsichtbar ist, das ist ewig‹«, sagte Pastor Merrill. »›So sind wir denn
allezeit getrost‹«, mahnte er uns, »›und wissen: solange wir im [781] Leib wohnen, weilen wir fern von dem Herrn; denn
wir wandeln im Glauben und nicht im Schauen. Wir sind aber getrost und haben
vielmehr Lust, den Leib zu verlassen und daheim zu sein bei dem Herrn. Darum
setzen wir auch unsre Ehre darein, ob wir daheim sind oder in der Fremde, daß
wir ihm wohlgefallen.‹«
Dann fegte er uns in einen anderen Psalm, und dann forderte er die
Gemeinde auf, sich zu erheben, was wir gehorsam taten, und las uns aus dem
Johannesevangelium: »›Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte läßt sein Leben
für die Schafe‹«, sagte Pastor Merrill, und wir senkten den Kopf wie Schafe.
Und als wir wieder saßen, sagte Mr. Merrill: »O Gott – wie sehr vermissen wir
Owen Meany!« Dann las er uns die Stelle über die wunderbare Heilung des
besessenen Knaben im Markusevangelium vor:
Und sie kamen zu den Jüngern und sahen eine große Menge um
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