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Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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von Angesicht
zu Angesicht – begegnet und hatte [786]  dennoch
nicht an ihn geglaubt –, und jetzt glaubte er alles, nicht weil Owen Meany ihn überzeugt, sondern weil ich ihn übertölpelt hatte.
Ich hatte ihn mit einer Schneiderpuppe hinters Licht geführt; Owen Meany war
das wirkliche Wunder gewesen, doch der Glaube meines
Vaters war durch eine Begegnung mit einer Puppe wiederhergestellt
worden, von der der arme Narr geglaubt hatte, sie sei meine Mutter –, die aus
dem Grab heraus die Hände nach ihm ausstreckte.
    »GOTTES WEGE SIND UNERGRÜNDLICH !« hätte
Owen Meany dazu wohl gesagt.
    »›…der Herr erhebe sein Angesicht auf ihn und gebe ihm Frieden‹«,
sagte Lewis Merrill – während Klumpen schwarzer Erde auf den kleinen grauen
Sarg hinabfielen. Dann schlug der ernste, kleinwüchsige Soldat, den Col Eiger
als Master Sergeant bezeichnet hatte, auf der Trommel
einen getragenen Rhythmus für Owen Meany.
    Ich verließ gerade den Friedhof, als sie auf mich zukam. Sie hätte
eine Farmersfrau sein können oder irgendeine Frau, die im Freien arbeitete; sie
war so alt wie ich, aber sie sah so viel älter aus, daß ich sie nicht erkannte.
Sie hatte drei Kinder bei sich; eines davon trug sie am Arm – einen mißmutig
dreinblickenden Jungen, der eigentlich schon zu schwer war, um getragen zu
werden, zumindest über längere Zeit. Die jüngere der beiden Töchter hing an
ihrer Hüfte, zerrte an ihr und wischte sich in einem fort die Nase am
ausgeblichenen schwarzen Kleid der Frau ab. Die zweite Tochter – das älteste
Kind, vielleicht sieben oder acht – lief ein paar Schritte hinter ihr und
beäugte mich mit einer unbeholfenen Scheu, die zu ertragen weh tat. Sie war ein
hübsches Mädchen, mit strohfarbenem Haar, doch sie fingerte unentwegt an ihrer
Stirn herum, wo ein himbeerrotes Muttermal von der Größe einer halben
Dollarnote prangte, das sie unter ihrem Pony zu verstecken suchte. Ich sah der
Frau in das müde Gesicht mit den geröteten Augen; sie bemühte sich verzweifelt,
nicht in Tränen auszubrechen.
    [787]  »Weißt du noch, wie wir ihn
immer über unsere Köpfe hochgehoben haben?« fragte sie mich. Da erkannte ich
sie wieder: es war Mary Beth Baird, unsere Mitschülerin in der Sonntagsschule,
das Mädchen, das Owen für die Rolle der Jungfrau Maria ausgewählt hatte. »MARY BETH BAIRD WAR NOCH NIE DIE MARIA«, hatte Owen
gesagt, » SO WÄRE MARY MARIA.«
    Ich hatte gehört, daß sie schwanger geworden und von der High-School
abgegangen war; sie hatte den Jungen geheiratet – er stammte aus einer
Farmerfamilie, die im Milchgeschäft ganz groß war – und lebte jetzt selbst auf
einer Farm in Stratham. Ich hatte sie seit ihrem umwerfenden Auftritt bei dem
Krippenspiel 1953 nicht mehr gesehen – wo sie nicht nur die jungfräuliche
Mutter des Jesuskindes Owen Meany gespielt hatte, sondern auch noch
verantwortlich gewesen war für die beeindruckenden Kuhkostüme mit den schlaffen
Hörnern, die den Kühen das Aussehen ramponierter Rentiere verliehen. Sie war
wohl kaum eine Expertin für Kühe, weder in der Milchwirtschaft noch sonstwo – damals zumindest.
    »Er war so leicht hochzuheben!« meinte Mary Beth Baird zu mir. »Er
war federleicht – wog fast überhaupt nichts! Wie
konnte er nur so leicht sein?« wollte sie von mir wissen. Da bemerkte ich, daß
ich nicht mehr sprechen konnte. Meine Stimme war weg. Heute kommt es mir vor,
als sei es nicht meine Stimme gewesen, die ich hören
wollte. Wenn ich Owens Stimme nicht mehr hören konnte, wollte ich niemandes Stimme mehr hören. Es war Owens Stimme, nur
Owens Stimme, die ich hören wollte; und als Mary Beth Baird mir diese Frage
stellte, war mir plötzlich klar, daß Owen Meany für immer weg war.
    Es gibt nicht mehr viel darüber zu erzählen, wie ich nach Kanada
kam. Wie Owen und ich festgestellt hatten, gibt es an der Grenze von New
Hampshire nach Quebec nicht viel zu sehen – nichts als Wälder, meilenweit, und
eine schmale, vom Wetter so mitgenommene Straße, daß sie eine bleierne Farbe
angenommen hat und mit [788]  Frostaufbrüchen
übersät ist. Der Grenzposten, das sogenannte Zollwärterhaus – ich erinnerte
mich lediglich an eine kleine Kabine –, war nicht mehr so, wie ich es in
Erinnerung hatte; und ich meinte, da wäre eine Schranke gewesen – wie an einem
Eisenbahnübergang –, doch auch das hatte sich inzwischen geändert. Mir war noch
ganz klar vor Augen, wie wir auf der Ladefläche des tomatenroten
Kleintransporters

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