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Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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sie
herum und Schriftgelehrte, die mit ihnen stritten. Und sobald die Menge ihn
sah, entsetzten sich alle, liefen herbei und grüßten ihn. Und er fragte sie:
»Was streitet ihr mit ihnen?« Einer aber aus der Menge antwortete: »Meister,
ich habe meinen Sohn hergebracht zu dir, der hat einen sprachlosen Geist. Und
wo er ihn erwischt, reißt er ihn; und er hat Schaum vor dem Mund und knirscht
mit den Zähnen und wird starr. Und ich habe mit deinen Jüngern geredet, daß sie
ihn austreiben sollen, und sie konnten’s nicht.« Er aber antwortete ihnen und
sprach: »O du ungläubiges Geschlecht, wie lange soll ich bei euch sein? Wie
lange soll ich euch ertragen? Bringt ihn her zu mir!« Und sie brachten ihn zu
ihm. Und sogleich, als der Geist ihn sah, riß er ihn. Und er fiel auf die Erde,
wälzte sich und hatte Schaum vor dem Mund. Und Jesus fragte seinen Vater: »Wie
lange ist’s, daß ihm das widerfährt?« Er sprach: »Von Kind auf. Und oft hat er
ihn ins Feuer und ins Wasser geworfen, daß er ihn umbrächte. Wenn du aber etwas
kannst, so erbarme dich unser und hilf uns!« Jesus aber sprach zu ihm: »Du
sagst: Wenn du kannst – alle Dinge sind möglich dem, der da [782]  glaubt.« Sogleich schrie der Vater des Kindes:
»Ich glaube; hilf meinem Unglauben!« Als nun Jesus sah, daß das Volk
herbeilief, bedrohte er den unreinen Geist und sprach zu ihm: »Du sprachloser
und tauber Geist, ich gebiete dir: Fahre von ihm aus und fahre nicht mehr in
ihn hinein!« Da schrie er und riß ihn sehr und fuhr aus. Und der Knabe lag da
wie tot, so daß die Menge sagte: »Er ist tot.« Jesus aber ergriff ihn bei der
Hand und richtete ihn auf, und er stand auf. Und als er heimkam, fragten ihn
seine Jünger für sich allein: »Warum konnten wir ihn nicht austreiben?« Und er
sprach: »Diese Art kann durch nichts ausfahren als durch Beten.«
    Als er mit Lesen fertig war, hob Pastor Merrill den Blick auf
uns und rief aus: »›Ich glaube; hilf meinem Unglauben!‹ Owen Meany hat meinem ›Unglauben‹ geholfen«, sagte mein Vater.
»Verglichen mit Owen Meany bin ich ein Amateur – was meinen Glauben angeht.
Owen war nicht nur für die amerikanische Armee ein Held – er war ein Held für mich. Er war ein Held für uns, ein ums andere Mal war er unser Held; er ist immer unser Held gewesen. Und wir werden ihn immer vermissen.
    Genauso wie ich sicher bin, daß Gott existiert, bin ich unfähig zu
sagen, was anders wird dadurch – daß Er existiert; oder mehr noch: an Gott zu
glauben, wie ich es tue, wirft mehr Fragen auf, als es an Antworten bereithält.
Und so spüre ich, wenn ich am stärksten vom Glauben erfüllt bin, auch eine
ganze Reihe schwieriger Fragen in mir, die ich Gott gerne stellen würde – ich meine kritische Fragen, zum Beispiel: ›Wie kann Er nur?‹, ›Wie
konnte Er nur?‹ oder ›Wieso läßt Du das zu?‹.
    Zum Beispiel würde ich Gott gerne bitten, uns Owen Meany zurückzugeben «, fuhr Mr.   Merrill fort; als er dabei die
Arme ausbreitete, tanzten die Finger seiner rechten Hand erneut im Sonnenlicht.
»O Gott – gib ihn uns zurück!« flehte Pastor Merrill. Es war mäuschenstill in
der Hurd’s Church, als wir darauf warteten, was Gott tun würde. Ich hörte eine
Träne herabfallen – eine der [783]  Tränen, die
meine Großmutter vergoß, und ich hörte, wie sie auf der Schutzhülle des
Gesangbuchs, das auf ihrem Schoß lag, zerplatzte. »Bitte gib uns Owen Meany
zurück«, bat Mr.   Merrill. Als nichts geschah, sagte mein Vater: »O Herr – ich
werde nie aufhören, dich zu bitten!« Dann wandte er sich wieder dem Gebetbuch
zu; es war ungewöhnlich für einen Kongregationalisten – besonders in einer
konfessionsfreien Kirche –, daß er dem Gebetbuch so nachdrückliche Beachtung
schenkte, aber ich war sicher, mein Vater tat das aus Respekt davor, daß Owen
der Episkopalkirche angehört hatte. Lewis Merrill legte das Gebetbuch nicht aus
der Hand, als er die Kanzel verließ; er trat auf den mit der amerikanischen
Fahne bedeckten Sarg zu und blieb so nahe bei Owens Medaille stehen, daß die
Sonnenstrahlen, die durch das Loch in der Fensterscheibe in das Innere der
Kirche fielen, über das Gebetbuch zuckten, als Mr.   Merrill es hoch emporhob.
Dann sagte er: »Laßt uns beten«, und wandte sich Owens Sarg zu.
    »›In Deine Hände, o gnadenreicher Gott, befehlen wir die Seele
deines Dieners Owen Meany‹«, begann mein Vater zu beten. »›Demütig bitten wir
Dich, nimm auf dieses Schaf aus Deiner

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