Owen Meany
Lüfte erhoben.
Die Dowlings waren da, benutzten allerdings diese Gelegenheit nicht dazu, ihren Geschlechterrollentausch kampflustig zur
Schau zu stellen; sie hatten – und das war wohl auch das beste – nie [777] ein Kind bekommen. Larry O’Day, der
Chevrolet-Händler, war ebenfalls da; er hatte den Bob Cratchit gespielt in Ein Weihnachtslied –in jenem
denkwürdigen Jahr, als Owen Meany den Geist der zukünftigen Weihnacht gespielt
hatte. Er war mit seiner rassigen Tochter, Caroline O’Day, gekommen; sie saß
neben ihrer alten Freundin Maureen Early, die sich zweimal die Hosen naßgemacht
hatte, während sie verfolgte, wie Owen dem hartherzigen Scrooge seine Zukunft
zeigte – die gute Caroline hatte immer wieder meine Annäherungsversuche
zurückgewiesen, ob sie nun gerade die Schuluniform von St. Michaels trug oder
nicht. Selbst Mr. Kenmore, der Metzger aus dem Supermarkt, war da – zusammen
mit seiner Frau und seinem Sohn Donny, sie waren so treue Fans unserer
Schülermannschaft gewesen, daß sie kein einziges Spiel verpaßt hatten. Ja, sie
alle waren da, sogar Mr. Morrison, der feige Postbote; selbst er war da! Und der neue Direktor der Gravesend Academy; er
hatte Owen Meany nie gesehen –, doch auch er war gekommen, vielleicht um damit
zu bestätigen, daß er nie der neue Direktor geworden wäre, wenn Owen Meany
nicht gegen Randy White zwar eine Schlacht verloren, aber den Krieg gewonnen
hätte. Und hätte der alte Archie Thorndike noch gelebt, dann wäre auch er
gekommen, das wußte ich.
Die Brinker-Smiths waren nicht unter den Anwesenden; ich bin sicher,
daß, wären sie nicht zurück nach England gezogen, auch sie gekommen wären – sie
waren so erbitterte Gegner des Krieges in Vietnam, daß sie ihre Zwillinge
keinesfalls als Amerikaner großziehen wollten. Wo immer die Brinker-Smiths auch
sein mochten, hoffte ich, daß sie sich noch immer so leidenschaftlich liebten,
wie sie es einst getan hatten – auf allen Stockwerken und in allen Betten von
Waterhouse Hall.
Und unser alter Freund, der unterbelichtete Hausmeister von der
Gravesend Academy, – der uns, wenn wir in der Turnhalle den Schuß übten, so treu
als Zeitnehmer gedient hatte, der Zeuge gewesen war, als wir ihn zum ersten Mal
in weniger als drei [778] Sekunden schafften! – war ebenfalls gekommen, um dem kleinen Dunking-Champion die letzte Ehre zu
erweisen!
Dann schob sich eine Wolke vor das Loch, das der Baseball in die
Buntglasscheibe des Chorfensters gerissen hatte; Owens goldene Medaille
funkelte nicht mehr ganz so intensiv. Großmutter ergriff zitternd meine Hand,
als wir uns erhoben, um ins Eingangslied einzustimmen – dabei drückte sie, ohne
es zu wollen, den Stumpf meines amputierten Fingers zusammen. Als Colonel Eiger
und der junge First Lieutenant sich vom Mittelgang
aus dem Sarg näherten, nahm die Ehrengarde ungelenk Haltung an. Wir sangen das
Lied, das wir auch an dem Tag, an dem Owen die arm- und kopflose Maria
Magdalena auf dem Podium in der Aula festgeschraubt hatte, bei der
Morgenversammlung gesungen hatten.
Der Sohn des Herrn zieht in den Krieg, Die Kro-ne zu er-rin-gen
Sein blut-rot Ban-ner führt zum Sieg; Wer hilft ihm beim Ge-lin-gen?
Wer sei-nen Schmer-zens-be-cher leert, Das Leid kann nie-der-rin-gen
Wer tap-fer je-den Feind ab-wehrt, Der hilft ihm beim Ge-lin-gen.
Im Gebetbuch gibt es eine Anmerkung zur »Beisetzungsordnung«,
die den Gepflogenheiten in der Episkopalkirche Rechnung trägt. Diese Anmerkung
ist sehr vernünftig. »Die Totenliturgie ist eine Osterliturgie«, heißt es da.
»Sie erhält ihren Sinn durch die Auferstehung. Weil Jesus von den Toten
auferstanden ist, werden auch wir auferstehen. Die Liturgie ist deshalb vom
Gefühl der Freude geprägt…« lautet die Anmerkung weiter. »Doch diese Freude
macht menschliche Trauer nicht zu etwas Unchristlichem…« schließt sie. Und so
sangen wir uns die Seele aus dem Leib für Owen Meany – in dem Bewußtsein, daß,
wenn auch die Totenliturgie vom Gefühl der Freude geprägt sein mochte, unsere [779] »menschliche Trauer« uns nicht »unchristlich«
werden ließ. Als wir uns durch das Lied durchgekämpft hatten, setzten wir uns
wieder und hoben den Blick –, und da stand Rev. Lewis Merrill bereits auf der
Kanzel.
»›Ich bin die Auferstehung und das Leben, spricht der Herr…‹« begann
mein Vater. In seiner Stimme lagen eine frische Kraft und wiedergewonnenes
Vertrauen, und die Trauernden hörten das; die Gemeinde
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