Owen Meany
Herde, dieses Lamm aus Deinem Stall,
diesen Sünder, der zu Deinem Volk gehört. Nimm ihn auf in Deine gnädigen Arme,
in die gesegnete Ruhe immerwährenden Friedens, in die glorreiche Schar der
Heiligen in Deinem Namen‹« –, und das Licht, das durch das Loch in der
Buntglasscheibe hereinfiel, trieb noch immer sein Spiel mit der Medaille und
dem Gebetbuch.
»Amen«, schloß Rev. Mr. Merrill.
Dann nickte er Colonel Eiger und dem jungen, ängstlich
dreinblickenden First Lieutenant zu; sie näherten
sich im Gleichschritt dem Sarg, nahmen die Flagge weg und zogen sie straff – die Medaille wurde dabei hin- und hergeschüttelt, doch sie war sicher an der
Fahne befestigt und konnte nicht herunterfallen. Dann gingen der Colonel und der First Lieutenant gemessenen Schrittes aufeinander zu und falteten die Flagge sorgfältig
zusammen, bis Colonel [784] Eiger schließlich ein
dreieckiges Paket in Händen hielt, auf dessen Oberseite die Medaille prangte
und das er nun dem ängstlichen First Lieutenant anvertraute. Dann salutierte Colonel Eiger vor der zusammengefalteten Flagge
und der Medaille. Der junge Mann vollzog eine so abrupte Kehrtwendung, daß er
meine Großmutter damit erschreckte. Ich spürte ihr Zucken. Dann murmelte der First Lieutenant Mr. und Mrs. Meany, die ganz überrascht
schienen, daß er mit ihnen sprach, etwas Unverständliches zu. Er sagte etwas
über die Medaille – etwas wie: »für heldenhaften Einsatz des eigenen Lebens«.
Dann räusperte sich der First Lieutenant, und die
Trauergemeinde konnte ihn etwas besser verstehen. Er wandte sich jetzt direkt
an Mrs. Meany; er überreichte ihr die Flagge, mit der Medaille obendrauf, und
sagte – übertrieben laut – zu ihr: »Mrs. Meany, es ist mir eine Ehre, Ihnen in
tiefer Dankbarkeit für die Verdienste Ihres Sohnes um unsere Nation die Fahne
unseres Landes überreichen zu dürfen.«
Zuerst wollte sie die Flagge nicht entgegennehmen; sie schien nicht
zu verstehen, daß das von ihr erwartet wurde – Mr. Meany mußte sie ihr
abnehmen, sonst hätte sie sie fallenlassen. Die ganze Zeit über hatten sie wie
versteinert dagesessen.
Dann erschreckte die Orgel meine Großmutter, die erneut
zusammenzuckte, und Rev. Lewis Merrill stimmte das Schlußlied an – das gleiche
Lied, das wir auch bei der Beerdigung meiner Mutter gesungen hatten.
Krönt ihn mit vielen Kronen, den Herrscher auf dem Thron,
Hört, wie der Engel Chor ertönt, zu ehren Gottes Sohn.
Wach auf, mein Herz und sing ihm, der sein Leben gab für dich,
Und preis ihn als den einz’gen König, heut’ und ewiglich.
Während wir sangen, hob die Ehrengarde Owens kleinen grauen Sarg
empor und trug ihn den Mittelgang entlang Richtung Ausgang; so verließ sein
Leichnam die Kirche etwa in dem Moment, [785] als
wir den dritten Vers des Chorals sangen – den Vers, der Owen Meany am meisten
bedeutet hatte.
KRÖNT IHN, DEN HERRN DES LEBENS, IHN, DER DAS GRAB
BESIEGT,
DER SIEGREICH AUFERSTANDEN IST, DER NIEMALS UNTERLIEGT,
ER IST’S, DEN WIR LOBPREISEN HIER, DER STARB UND AUFERSTAND
DER FÜR EIN EW’GES LEBEN STARB UND SO DEN TOD GEBANNT.
Über die Beisetzung gibt es nicht mehr viel zu erzählen. Es war
drückend heiß, und wieder konnten wir auf dem Friedhof am Ende der Linden
Street hören, wie auf den nahen Schulsportplätzen Baseball gespielt wurde.
Wieder drangen die Freudenschreie und die Auseinandersetzungen der Spieler und
dieses typisch amerikanische Geräusch, der Knall, wenn der Schläger den Ball
trifft, zu uns herüber, als wir an Owen Meanys Grab standen und den tröstlichen
Worten lauschten, die Rev. Lewis Merrill für solche Gelegenheiten bereithielt.
»›In Gewißheit und Hoffnung auf die Auferstehung zum ewigen Leben
durch unseren Herrn Jesus Christus befehlen wir dem Allmächtigen Gott unseren
Bruder Owen an…‹« sagte mein Vater. Wenn ich
besonders aufmerksam zuhörte, dann deshalb, weil ich wußte, daß ich Pastor
Merrill in diesem Augenblick zum letzten Mal zuhörte; was konnte er mir noch zu
sagen haben? Jetzt, wo er seinen verlorenen Glauben wiedergefunden hatte, wozu
brauchte er da noch seinen verlorenen Sohn? Und wozu brauchte ich ihn noch? Ich stand an Owens Grab und hielt Dan Needhams
Hand, während sich Großmutter gegen uns beide lehnte.
»›…Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zum Staube‹«, sprach Pastor
Merrill, und ich dachte dabei, daß mein Vater ein gewaltiger Schwindler war; schließlich war er dem Wunder Owen Meany –
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