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Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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nicht an die Erdoberfläche emporgestiegen,
sondern tief im Boden erstarrt; und weil es ganz langsam auskristallisierte,
bildete es ziemlich große Kristalle.
    Mr.   und Mrs.   Meany saßen, ganz allein, in der vordersten
Kirchenbank, rechts vom Mittelgang. Sie saßen reglos da wie senkrecht stehende
Granitbrocken, hatten den Blick unverwandt auf die Medaille an Owens Sarg
gerichtet, die im Sonnenlicht funkelte. Ihre Blicke waren durchdringend; sie
sahen mit der gleichen, unterdrückten Ehrfurcht auf Owens Sarg, die in ihren
Augen geleuchtet hatte, als der kleine Herr Jesus sie bei dem [775]  Krippenspiel in der Christ Church im Jahr 1953
unter den Zuschauern entdeckt hatte – als Owen sich in der »Lichtsäule« geaalt
hatte. Die Meanys wirkten stark bewegt und angespannt, und ich vermutete, daß
sie daran zurückdachten, wie Owen sie für ihr ungeladenes Erscheinen bei jenem
Krippenspiel getadelt hatte.
    »WAS WOLLT IHR DENN HIER?« hatte der verärgerte Herr Jesus sie
angeschrien. »IHR HABT HIER NICHTS ZU SUCHEN!« hatte
Owen ausgerufen. »ES IST EIN FREVEL, DASS IHR HIER SEID!«
    Genau das dachte ich jetzt bei Owens
Beerdigung: es war ein »Frevel«, daß seine Eltern hier waren. Und ihr nervöses
Starren auf seine Medaille, die auf der amerikanischen Flagge prangte, ließ
darauf schließen, daß die Meanys fürchteten, er könne sich womöglich aus dem
Sarg erheben, wie er sich aus dem Heuhaufen in der Krippe erhoben hatte – und
seine Eltern ein weiteres Mal tadeln. Sie hatten tatsächlich einem zehn-,
elfjährigen Jungen erzählt, daß er »wie das Jesuskind« durch eine
»jungfräuliche Geburt« zur Welt gekommen sei!
    Bei Owens Beerdigung in der Hurd’s Church betete ich, Owen möge sich
aus dem geschlossenen Sarg erheben und seine armen Eltern anbrüllen: »IHR HABT HIER NICHTS ZU SUCHEN!« Doch Owen rührte
sich nicht, sagte kein Wort.
    Mr.   Fish wirkte sehr kränklich; dennoch saß er neben meiner
Großmutter in der zweiten Bankreihe rechts vom Mittelgang und starrte
gleichfalls auf die funkelnde Medaille an Owen Meanys Sarg – als hoffe auch er,
Owen werde uns noch eine letzte Vorstellung geben; als könne er es nicht
fassen, daß Owen Meany in diesem Stück nur eine
stumme Rolle hatte.
    Onkel Alfred und Tante Martha saßen in der gleichen Reihe wie
Großmutter; keiner von uns hatte etwas zu Hesters Fehlen gesagt; selbst Simon – der auch nicht weit von Großmutter saß – hatte sich beherrscht und nicht von
Hester angefangen. Die Eastmans sprachen lieber davon, wie leid es ihnen tue,
daß Noah nicht kommen konnte – er war noch in Afrika, brachte den Nigerianern
bei, wie [776]  man richtig Forstwirtschaft
betreibt. Ich werde nie vergessen, wie Simon reagierte, als ich ihm sagte, ich
würde nach Kanada gehen.
    »Kanada! Das wird eines der größten Probleme, mit dem die Sägewerke
hier in Neuengland fertig werden müssen – wart’s mal ab!« erklärte mir Simon.
»Die Kanadier werden ihr Holz wesentlich billiger exportieren, als wir es
produzieren!«
    Der gute alte Simon: kein Funken politischer Verstand; ihm scheint
nicht aufgefallen zu sein, daß ich nicht nach Kanada wollte, weil das Holz da so billig war.
    Ich erkannte das Vorspiel, aus Händels Messias – »Ich weiß, daß mein Erlöser lebet.« Ich erkannte auch den rundlichen Herrn
auf der anderen Seite des Mittelgangs; er war etwa so alt wie ich, und er hatte
mich angestarrt. Doch erst, als er den Blick nach oben wandte, zu dem hohen
Deckengewölbe der Hurd’s Church – vielleicht auf der Suche nach Engeln im
Schatten der Strebepfeiler –, wurde mir klar, daß ich den dicken Harold Crosby
vor mir hatte, den ehemaligen Verkündigungsengel, der mit seinem Text nicht
klarkam und die Hilfe eines Souffleurs brauchte, und den man bei jenem
Krippenspiel an Weihnachten 1953 im Gewölbe der Christ Church hatte hängen
lassen. Ich nickte ihm zu, und Harold lächelte mit Tränen in den Augen zu mir
herüber; ich hatte gehört, Mrs.   Hoyt habe ihn so gut beraten, daß er es geschafft
hatte, als untauglich eingestuft zu werden – wegen psychischer Störungen.
    Unsere alte Sonntagsschullehrerin, Mrs.   Walker, erkannte ich nicht
sofort. In Schwarz wirkte sie besonders streng, und ohne ihre lautstark
geblökten Aufforderungen an Owen – an seinen Platz zurückzugehen, sofort da runter zu kommen! – erinnerte ich mich nicht sofort an sie als die Sonntagsschultyrannin, die so
dumm war zu glauben, Owen Meany habe sich von allein in die

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