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Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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war
der Bestrafungsteil eines Spieles; wer Hester küssen
mußte, hatte verloren.
    Ich weiß nicht mehr ganz genau, wie alt wir waren, als wir uns zum
ersten Mal küssen mußten; aber es war, nachdem meine Mutter Dan Needham
kennengelernt hatte – denn Dan verbrachte die Weihnachtsferien mit uns bei den
Eastmans in Sawyer Depot – und bevor meine Mutter und Dan Needham heirateten,
denn Mutter und ich lebten noch in der Front Street. Jedenfalls waren Hester
und ich noch nicht in der Pubertät – wir waren noch in der präsexuellen Phase,
wenn ich das mal so ausdrücken darf; bei Hester bin ich mir da zwar nicht
sicher, bei mir selbst aber schon.
    Nun gut, hoch oben im Norden hatte es getaut und dann etwas
geregnet, und dann hatte es einen Schneesturm gegeben, der den Schneematsch in
tiefen Furchen gefrieren ließ. Der Schnee war wie gezacktes Glas, was Noah und
Simon noch mehr Freude am Skilaufen bereitete, mir jedoch dieses Vergnügen
gänzlich vergällte. Also zogen Noah und Simon los, um den Naturgewalten zu
trotzen, und ich blieb im gemütlichen Haus der Eastmans; ich weiß nicht mehr,
warum auch Hester zu Hause blieb. Vielleicht war sie gerade schlecht gelaunt,
oder vielleicht wollte sie auch nur ausschlafen. Jedenfalls waren wir beide
zusammen, und als Noah und Simon am späten Nachmittag zurückkamen, spielten wir
gerade in ihrem Zimmer Monopoly. Ich hasse Monopoly,
aber selbst ein kapitalistisches Brettspiel war eine willkommene Erholung von
den ermüdenden Aktivitäten, zu denen meine Vettern mich drängten – und entweder
war Hester wirklich außergewöhnlich ruhig, oder aber ich sah sie nur selten
ohne Noah und Simon, in deren Gesellschaft es unmöglich war, ruhig zu bleiben.
    [88]  Wir lagen auf dem dicken
flauschigen Teppich in Hesters Zimmer, hatten uns einige ihrer alten
ausgestopften Plüschtiere als Kissen untergeschoben, als die Jungen – mit vom
Skilaufen eisig kalten Händen und Gesichtern – über uns herfielen. Sie
trampelten so erfolgreich über das Spielbrett, daß jede Hoffnung darauf, die
Häuser und Hotels und Spielfiguren wieder so hinzubekommen, wie sie gestanden
hatten, sinnlos war.
    »Hej!« brüllte Noah. »Guck mal, wie die hier rumturteln!«
    »Hier wird überhaupt nicht rumgeturtelt!« gab Hester wütend zurück.
    »Hej!« brüllte Simon. »Läster-Schwester! Hester
the Molester! «
    »Raus hier!« schrie Hester.
    »Wer zuletzt durchs Haus ist, muß Hester the
Molester küssen!« sagte Noah, und die beiden stürzten davon. Voller
Panik schaute ich Hester an und rannte ihnen nach. »Durchs Haus« war ein
Wettrennen, bei dem wir durch die hinteren Schlafzimmer rannten – Noahs und
Simons Zimmer und den hinteren Gästeraum, den ich bewohnte – und dann die
hintere Treppe hinunter, den Flur entlang, am Zimmer des Hausmädchens vorbei,
wo May uns meistens ausschimpfte, und dann durch Mays Eingang in die Küche (May
war gleichzeitig die Köchin). Dann rasten wir durch Küche und Eßzimmer, durchs
Wohnzimmer und den Wintergarten und durch Onkel Alfreds Arbeitszimmer – vorausgesetzt, er war nicht drin – und dann die vordere Treppe hinauf, an den
Gästeschlafzimmern vorbei, die am Hauptflur lagen, dann durch das Schlafzimmer
von Tante Martha und Onkel Alfred – vorausgesetzt, sie waren nicht drin – dann
zum hinteren Flur, und dort schließlich ins erste Zimmer, nämlich Hesters Bad.
Der nächste Raum war das Ziel: Hesters Zimmer.
    Natürlich kam May aus ihrem Zimmer heraus, um mit Noah und Simon zu
schimpfen, weil sie so herumtobten, doch sie erwischte nur mich auf dem Flur – und nur ich mußte stehenbleiben [89]  und mich
bei ihr entschuldigen. Und die beiden hatten die Schwingtür zwischen Küche und
Eßzimmer geschlossen, nachdem sie hindurchgelaufen waren, und nur ich verlor
Zeit damit, sie wieder aufzumachen. Onkel Alfred war nicht in seinem
Arbeitszimmer, aber Dan Needham saß da und las, und nur ich blieb einen Moment
lang stehen und sagte »Hallo« zu ihm. Auf der ersten Stufe der vorderen Treppe
stand Firewater und versperrte mir den Weg; zweifellos hatte er geschlafen, als
Noah und Simon an ihm vorbeigestürmt waren, jetzt aber war er munter und wollte
mitspielen. Als ich um ihn herumlaufen wollte, erwischte er meine Socke, und so
kam ich natürlich – mit ihm im Schlepptau – nicht sehr weit, sondern mußte
anhalten und ihm die Socke überlassen.
    Also war ich letzter – bei diesem Spiel war ich immer letzter – und
ich wußte auch, was dem Verlierer

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