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Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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hielt er ein Bier in der Hand. Weil er
selbst nicht Wasserski lief, ging Onkel Alfred davon aus, es sei die Pflicht
des Bootsfahrers, die Fahrt des Wasserskiläufers so grauenhaft wie möglich zu
gestalten. Mitten in einer Drehung änderte er plötzlich die Richtung, so daß
das Seil schlaff herabhing oder daß man es sogar einholen und darüber
hinweggleiten konnte. Er fuhr eine mörderische Acht; es schien ihm höchsten
Genuß zu bereiten, einen zu erschrecken, indem er zum Beispiel geradewegs auf
ein anderes Boot oder einen anderen Wasserskiläufer auf dem [83]  vielbefahrenen See zusteuerte. Egal, warum man
letztlich ins Wasser stürzte – er sah es immer als sein persönliches Verdienst
an. Wenn jemand hinter dem Boot eine hohe Gischtwelle aufspritzen ließ, das
Gleichgewicht nicht mehr halten konnte, die Skier verlor, mit dem Kopf
untertauchte, hochkam und wieder untertauchte – dann rief Onkel Alfred immer:
»Geschafft!«
    Ich bin der lebende Beweis dafür, daß man das Wasser des Loveless
Lake trinken kann, denn ich habe jeden Sommer mindestens den halben See
geschluckt, wenn ich mit Noah, Simon und Hester Wasserski lief. Einmal bin ich
so heftig aufs Wasser geknallt, daß mein rechtes Augenlid irgendwie hinter dem
Auge verschwunden war. Simon meinte, ich hätte es wohl verloren – und Hester
fügte sofort an, daß man mit einem verlorenen Augenlid blind würde. Doch Onkel
Alfred fand das verlorene Lid wieder, nach einigen angstvollen Minuten.
    Das Leben im Haus war nicht weniger anstrengend. Die Wildheit, mit
der Kissenschlachten ausgetragen wurden, raubte mir den Atem, und dann gab es
noch ein Spiel, bei dem Noah und Simon mich fesselten und dann in Hesters
Wäschekorb stopften, wo sie mich natürlich jedesmal fand; ehe sie mich von den
Stricken befreite, schimpfte sie immer, daß ich in ihrer Unterwäsche
geschnüffelt hätte. Ich weiß, daß Hester sich ganz besonders auf mich freute,
weil sie darunter litt, ständig die Schwächste zu sein – nicht, daß ihre Brüder
gemein oder auch nur boshaft zu ihr gewesen wären. Wenn man berücksichtigt, daß
die beiden Jungen waren und älter, und daß sie ein Mädchen war und jünger, dann
finde ich, daß die beiden großartig mit ihr umgegangen sind, nur waren alle
ihre Spiele eine Art Wettkampf, und es ärgerte Hester maßlos, daß sie immer
verlor. Natürlich waren ihre Brüder in allen Bereichen besser als sie. Wie sehr
muß sie es genossen haben, wenn ich da war, denn sie war in allen Bereichen
besser als ich – selbst wenn wir ins Holzlager der Eastmans und zur Sägemühle
gingen und um die Wette auf den Baumstämmen herumturnten. Dort [84]  hatten wir noch ein schönes Spiel erfunden: es
ging darum, einen Berg aus Sägemehl zu erobern – diese Berge waren oft zwischen
fünf und zehn Metern hoch, und das Sägemehl ganz unten, mit Kontakt zum Boden,
war oft gefroren oder zumindest sehr hart und verkrustet. Ziel war es,
Bergkönig zu werden, alle anderen vom Gipfel hinunterzustoßen – oder die
Angreifer im Sägemehl zu begraben.
    Das Schlimmste daran, bis zum Kinn im Sägemehl begraben zu werden,
war, daß der Wachhund des Holzlagers, der sabbernde Boxer der Eastmans, ein
hirnloses, freundliches Tier mit einem derartigen Mundgeruch war, daß einen
Visionen von verwesenden Leichen beschlichen… dieser Hund mit seinem Todesmaul
wurde dann gerufen und leckte einem das Gesicht. Und da man ganz und gar im
Sägemehl eingebuddelt war – und damit praktisch ohne Arme, wie Watahantowets
Totem –, konnte man nichts tun, um den Hund abzuwehren.
    Doch es gefiel mir ungeheuer, mit ihnen zusammenzusein; sie
stimulierten mich derartig, daß ich in ihrem Haus nicht schlafen konnte,
sondern die ganze Nacht wachlag und darauf wartete, daß sie sich plötzlich auf
mich stürzten oder Firewater, den Hund, in mein Zimmer ließen, wo er mich dann
zu Tode lecken würde; manchmal lag ich auch da und stellte mir vor, was für
erschöpfende Spiele wohl am nächsten Tag auf mich zukommen würden.
    Für meine Mutter war der Aufenthalt in Sawyer Depot eine erfreuliche
Abwechslung – frische Luft, nettes Geplauder mit Tante Martha, und zweifellos
eine Erholung von dem sicherlich beengenden Leben mit Großmutter und Lydia und
den Hausmädchen in der Front Street. Mutter muß sich danach gesehnt haben, von
zu Hause wegzukommen. Fast jeder sehnt sich danach, von zu Hause wegzukommen,
früher oder später; und fast jeder braucht das einfach. Für mich jedoch war
Sawyer Depot

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