Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
ein Trainingslager; und dennoch waren die athletischen Übungen – für sich allein genommen – nicht das Aufregendste an den Ferien, die ich [85]  bei den Eastmans verbrachte. Was diese Spiele so
aufregend machte, war die präsexuelle Spannung, die ich immer mit ihnen verband – die ich immer ganz besonders mit Hester verband.
    Noch heute debattiere ich mit Noah und Simon, ob Hester »das
Produkt« ihrer Umwelt ist, die voll und ganz das Produkt von Noah und Simon war
(das ist meine Meinung), oder ob sie mit einer Überdosis an sexueller
Aggression und Feindseligkeit gegenüber ihrer Familie geboren wurde – das
glauben Noah und Simon. Wir stimmen in dem Punkt überein, daß meine Tante
Martha als Musterbild einer Frau kein Vergleich war zu dem viel überwältigenderen
Eindruck, den Onkel Alfred hinterließ – als Mann. Bäume fällen, Stämme
abtransportieren, Holz sägen – die Eastman Lumber Company war ein ganz und gar
männliches Gewerbe.
    Das Haus in Sawyer Depot war geräumig und hübsch eingerichtet; Tante
Martha hatte Großmutters guten Geschmack geerbt, und sie hatte auch Geld mit in
die Ehe gebracht. Doch Onkel Alfred verdiente mehr Geld, als wir Wheelwrights
besaßen. Onkel Alfred war auch in der Hinsicht ein Muster an Männlichkeit, daß
er reich war und sich wie ein Holzfäller kleidete;
daß er den größten Teil des Tages am Schreibtisch verbrachte, tat dem keinen
Abbruch. Selbst wenn er nur kurz zur Sägemühle ging – und er ging auch
höchstens zweimal in der Woche in die Wälder, wo die Bäume gefällt wurden – er sah
trotzdem aus wie ein Holzfäller. Er war stark wie ein Bär, und doch habe ich
ihn nie auch nur fünf Minuten körperlich arbeiten sehen. Er strahlte eine
kräftige Gesundheit aus, und obwohl er wenig Zeit »vor Ort« verbrachte, so hing
doch immer Sägemehl in seinen buschigen Haaren, er hatte Holzsplinte zwischen
den Schnürsenkeln und ein paar wohlriechende Kiefernnadeln an den Jeans.
Wahrscheinlich bewahrte er die Kiefernnadeln, Holzsplinte und das Sägemehl in
einer Schublade seines Büroschreibtischs auf.
    Na und? Wenn er mit uns allen vieren herumtobte, war Onkel [86]  Alfred ein gutmütiger Raufbold; und der Hauch
seines harten Geschäfts, der echte Geruch der Wälder, umgab ihn ständig. Ich
weiß nicht, wie Tante Martha es ertragen konnte, aber Firewater schlief oft in
ihrem riesigen Ehebett – und das war ein weiterer Beweis für Onkel Alfreds
Männlichkeit: Wenn er sich nicht an meine liebe Tante Martha kuschelte, aalte
er sich mit einem riesigen Hund im Bett.
    Ich fand Onkel Alfred großartig – er war ein wunderbarer Vater; und
für Jungen war er das, was diese Idioten heutzutage wohl ein nachdrückliches
»Rollenvorbild« nennen würden. Allerdings muß er ein schwieriges Rollenvorbild
für Hester abgegeben haben, denn ich glaube, ihre hingebungsvolle Liebe zu ihm – und dazu noch die Tatsache, daß sie bei den täglichen Wettkämpfen mit ihren
Brüdern ständig den kürzeren zog – überwältigte sie einfach und ließ sie eine
ungerechtfertigte Verachtung für Tante Martha empfinden.
    Doch ich weiß, was Noah dazu sagen würde: »Quatsch!« würde er sagen,
seine Mutter sei immer ein Vorbild an Liebe und Hingabe gewesen – und das war
sie auch! Da widerspreche ich gar nicht! – und Hester sei schlicht und
ergreifend mit einer feindseligen Einstellung gegenüber ihrer Mutter geboren worden; sie sei dazu geboren, die elterliche Liebe beiden Elternteilen mit
Feindseligkeit zu vergelten; und die einzige Methode,
es ihren Brüdern heimzuzahlen, daß sie beim Skilaufen (im Schnee und auch im
Wasser) besser waren und sie immer von den Sägemehlbergen hinunterstießen und
daß sie ihren Vetter in den Korb mit ihrer schmutzigen Wäsche stopften, sei nun
mal die gewesen, jede Freundin von ihnen so gut es ging einzuschüchtern und
jeden Jungen, den sie kannten, durchzubumsen. Was sie auch zu tun schien.
    Das Ganze führt zu nichts – die Frage, womit wir geboren sind und
wie unsere Umwelt uns formt. Und die Frage ist langweilig, denn sie vereinfacht
die Geheimnisse, die unsere Geburt und unser Aufwachsen umgeben.
    [87]  Insgeheim verzeihe ich Hester
immer noch mehr, als es ihre Familie tut. Ich glaube, ihre Karten waren von
vornherein schlecht gemischt, und alles, was sie später wurde, begann für sie
zu dem Zeitpunkt, als Noah und Simon mich zwangen, sie zu küssen – denn die
beiden machten ganz deutlich, daß es eine Strafe war, Hester zu küssen, es

Weitere Kostenlose Bücher