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Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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bevorstand: er mußte Hester küssen. Um diese
unfreiwillige Vereinigung zu bewerkstelligen, hatten Noah und Simon Hester
davon abhalten müssen, sich in ihr Bad einzuschließen – was sie versucht hatte –, und dann mußten die beiden sie aufs Bett fesseln, was ihnen nach einem
heftigen Kampf gelang, bei dem eines von Hesters weniger widerstandsfähigen
Stofftieren, mit dem sie vergeblich auf ihre Brüder eingeschlagen hatte,
enthauptet wurde. Endlich lag sie gefesselt auf dem Bett und drohte, jedem, der
es wagte, sie zu küssen, die Lippen abzubeißen – und dieser Gedanke erfüllte
mich mit einer solchen Furcht, daß Noah und Simon mit noch mehr
Bergsteigerseilen mich auf Hester festbinden mußten. So lagen wir denn
aneinandergebunden da, in einer äußerst unbequemen Stellung, Gesicht an Gesicht – und Brust an Brust, Hüfte an Hüfte, was die Erniedrigung noch verstärkte – und man teilte uns mit, daß wir nicht eher losgebunden würden, bis wir es getan
hätten.
    »Gib ihr einen Kuß!« rief Noah mir zu.
    »Los, Hester, laß dich von ihm küssen!« sagte Simon.
    Heute scheint mir, daß diese Vorstellung wohl für Hester sogar [90]  noch weniger reizvoll war als für mich, doch
damals erschien mir Hesters geifernder Mund ungefähr genauso einladend wie der
von Firewater; dennoch glaube ich, uns war beiden klar, daß ein längeres
Andauern der peinlichen Situation, in dieser Ehegattenposition
aneinandergefesselt zu sein, während Noah und Simon unseren Atem und alle
winzigen Bewegungen beobachteten, möglicherweise zu noch größeren
Unannehmlichkeiten führen konnte, als einen Kuß auszutauschen. Wie dumm waren
wir doch zu glauben, Noah und Simon wären blöd genug, sich mit einem Kuß
zufriedenzugeben! Wir versuchten einen klitzekleinen, doch Noah sagte: »Das war
nicht auf die Lippen!« Wir versuchten einen kleinen, mit geschlossenen Lippen – so kurz, daß wir nicht einmal Luft zu holen brauchten ö doch damit gab sich
Simon nicht zufrieden, und er sagte: »Macht den Mund auf!« Wir machten den Mund
auf. Zuerst mußten wir allerdings zusehen, daß sich unsere Nasen nicht in die
Quere kamen, ehe wir uns dem nervösen Austausch von Speichel hingeben konnten – dem feuchten Kontakt der Zungen, dem überraschenden Klacken, als sich die Zähne
berührten. Wir küßten uns so lange, bis wir nach Luft schnappen mußten, und ich
war erstaunt, wie angenehm der Atem meiner Kusine war; bis heute hoffe ich, daß
meiner nicht allzu schlimm war.
    So plötzlich, wie sie sich das Spiel ausgedacht hatten, gaben meine
beiden Vettern bekannt, daß es nun zu Ende war. Sie waren nie wieder mit soviel
Begeisterung bei den vielen Wiederholungen von »Wer zuletzt durchs Haus ist,
muß Hester küssen«; vielleicht wurde ihnen später klar, daß ich das Spiel
absichtlich zu verlieren begann. Und was dachten sie wohl in dem Moment, als
sie uns einmal wieder losbanden und Hester zu mir sagte: »Ich hab deinen
Steifen gespürt.«
    »Das hast du nicht!« entgegnete ich.
    »Und ob. War sowieso nicht sehr steif«, meinte sie. »Nichts
Aufregendes. Aber gespürt hab ich ihn.«
    [91]  »Das hast du nicht!«
    »Hab ich doch!« sagte sie.
    Und sie hatte recht – es war nichts Aufregendes, das ganz sicher
nicht; er war vielleicht auch nicht besonders steif; aber ich hab einen gehabt.
    Haben Noah und Simon je über die Gefahr bei diesem Spiel
nachgedacht? So wie sie skiliefen, auf Wasser und im Schnee – und später, wie
sie Auto fuhren – hatte ich den Eindruck, für sie schien gar nichts gefährlich
zu sein. Aber Hester und ich waren gefährlich. Und sie haben damit angefangen:
Noah und Simon haben damit angefangen.
    Owen Meany hat mich gerettet. Wie sich noch zeigen wird, hat Owen
mich immer gerettet; doch angefangen hat er mit seiner Lebensaufgabe, mich zu
retten, indem er mich vor Hester rettete.
    Owen war immer ganz komisch, wenn ich mit meinen Verwandten zusammen
war. Schon mehrere Tage, bevor ich nach Sawyer Depot aufbrach, war er
miesepetrig, und nachdem ich zurück war, blieb er noch mehrere Tage lang
gereizt und verschlossen. Obwohl ich ihm immer sehr genau beschrieb, wie sehr
die Zeit, die ich mit Noah, Simon und Hester verbrachte, an meine körperliche
und seelische Substanz ging, war Owen griesgrämig; ich glaubte, er sei
eifersüchtig.
    »WEISST DU, WAS ICH MIR ÜBERLEGT HAB«, fing
er eines Tages an. »WENN DU MICH FRAGST, OB ICH BEI DIR ÜBERNACHTE,
DANN TU ICH ES AUCH FAST IMMER – UND ES IST AUCH IMMER SCHÖN,

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