Owen Meany
anderen das Bajonett.
»Ihr seid alle beide Arschlöcher!«
schleuderte der Junge beiden ins Gesicht – und als seine Halbschwester wieder
zu weinen begann, legte er noch einmal den Kopf zurück und spuckte den
Tabaksaft aus; er zielte nicht auf sie, aber grob in ihre Richtung.
Da wandte sich Owen Meany an ihn: »DIE SCHEIDE
DA GEFÄLLT MIR – DIE FÜRS BAJONETT«, begann Owen. »IST DIE SELBSTGEMACHT?«
Wie ich es schon früher erlebt hatte – bei Leuten, die Owen Meany
nicht kannten –, erstarrte die ganze furchtbare Familie, als seine Stimme
ertönte. Das schwangere Mädchen hörte auf zu weinen; der Vater – der nicht der Vater des hoch aufgeschossenen Jungen war – wich
vor Owen zurück, als habe er mehr Angst vor der ›Stimme‹ als vor einem Bajonett
oder einer Machete, oder vor beiden zusammen; die Mutter strich nervös ihr
fettiges Haar zurecht, als habe Owen sie dazu gebracht, sich Gedanken um ihr
Äußeres zu machen. Selbst mit Mütze reichte Owen Meany dem großen Jungen gerade
bis an die Brust.
Jetzt wandte sich der Junge an ihn: »Wer bist du denn, du kleines Arschloch ?«
»Das ist der Rückführungsoffizier«, erklärte der Major. »Das ist
Lieutenant Meany.«
[814] »Ich will es von ihm hören«, sagte der Junge, ohne den Blick von Owen zu
wenden.
»ICH BIN LIEUTENANT MEANY «, sagte Owen
und hielt dem Jungen die Hand hin. » WIE HEISST DU ?«
Doch um Owens Hand zu ergreifen, hätte der Junge zumindest eine seiner Waffen
wegstecken müssen; das schien er nicht zu wollen. Auch seinen Namen schien er
Owen nicht sagen zu wollen.
»Was ist mit deiner Stimme los?« fragte er
Owen.
»NICHTS – WAS IST MIT DIR LOS?« fragte Owen
zurück. »DU SCHMEISST DICH IN SOLDATENKLEIDER UND WILLST
SOLDAT SPIELEN – UND SCHEINST NICHT ZU WISSEN, WIE MAN MIT EINEM OFFIZIER SPRICHT?!«
Als jemand, der gewöhnlich andere einschüchterte, war auch er für
einschüchterndes Verhalten empfänglich. »Ja, Sir«, meinte er abfällig zu Owen.
»LEG DIESE WAFFEN AB«, befahl ihm Owen. »IST DAS DEIN BRUDER, DEN ICH DA ZURÜCKGEBRACHT HABE?«
»Ja, Sir«, erwiderte der Junge.
»ES TUT MIR LEID, DASS DEIN BRUDER TOT IST«, erklärte
Owen Meany. »WILLST DU DEINE AUFMERKSAMKEIT NICHT EIN WENIG AUF IHN RICHTEN?«
»Ja, Sir«, erwiderte der Junge ruhig; er schien nicht recht zu
wissen, wie er seine Aufmerksamkeit auf seinen toten
Bruder RICHTEN sollte, und so starrte er
ratlos auf den Zipfel der Fahne, der der Hecktür des Leichenwagens so nahe war,
daß er ab und zu ein wenig vom Wind bewegt wurde.
Dann machte Owen die Runde, schüttelte jedem Familienmitglied die
Hand und sprach sein Beileid aus; über das Gesicht der Mutter zuckten dabei die
widersprüchlichsten Gefühle – sie schien nicht zu wissen, ob sie lieber mit ihm
flirten oder ihn umbringen sollte. Der gleichmütige Vater schien mir von Owens
unnatürlicher Größe am unangenehmsten beeindruckt; sein grobschlächtiges
Gesicht wogte zwischen viehischer Dummheit und [815] Verachtung
hin und her. Das schwangere Mädchen wirkte völlig verschüchtert, als sich Owen
an sie wandte.
»ES TUT MIR LEID UM IHREN BRUDER«, sagte er zu ihr; er reichte ihr bis ans Kinn.
»Er war mein Halb bruder«, murmelte sie.
»Aber ich hab ihn doch geliebt!« fügte sie an. Ihr anderer Halbbruder – der, der noch lebte – mußte sich fürchterlich zusammenreißen, um
nicht wieder auszuspucken. Die Familie war also in zwei Hälften zerrissen – oder Schlimmeres, dachte ich.
Im Wagen des Major – wo Owen und ich endlich eine Gelegenheit
hatten, einander zu begrüßen, zu umarmen und auf den Rücken zu klopfen – erklärte uns der Major die Familienverhältnisse.
»Eine Katastrophe, die Familie – ich glaube, die sind alle geistig
völlig zurückgeblieben«, begann der Major. Er hieß Rawls – ein Typ, der hervorragend
nach Hollywood gepaßt hätte. Aus der Nähe sah er aus wie fünfzig, wie ein
schroffer älterer Mann; er war aber erst siebenunddreißig. In den letzten Tagen
des Koreakrieges hatte er einen Feldeinsatz geführt; er hatte als
Einsatzoffizier eines Infanteriebataillons in Vietnam gedient. Major Rawls war
1949 in die Armee eingetreten, da war er achtzehn gewesen. Er hatte ihr
neunzehn Jahre lang gedient, hatte in zwei Kriegen gekämpft, war bei der
Beförderung zum Lieutenant Colonel übergangen worden
und endete schließlich – zu einer Zeit, als alle guten Truppenoffiziere
entweder in Washington oder in Vietnam waren – als ROTC
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