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Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Gesichtshaut
schien zu straff über die Knochen gespannt, die deutlich hervorstanden. An
seinem Haar war etwas Unrealistisches, es wirkte wie eine unvollständige
Perücke. Dann begannen bestimmte Details meine Wahrnehmung des Gesichts zu stören – die Ohren waren dunkel und runzelig wie Dörrpflaumen, als ob sein Kopfhörer
Feuer gefangen hätte, während er ihn aufhatte; und in die Haut um seine Augen
waren Waschbärenringe in der Größe von Brillengläsern gebrannt. Mir wurde klar,
daß ihm die Schutzbrille ins Gesicht geschmolzen war, und daß die allzu straffe
Gesichtshaut daher kam, daß sein ganzes Gesicht angeschwollen war – es war eine
einzige straffe und glatte Blase, die bei mir den Eindruck hervorrief, die
furchtbare Hitze, der er ausgesetzt gewesen war, sei in
seinem Kopf erzeugt worden.
    Ich fühlte mich ein wenig unwohl, aber es war mehr Scham als [821]  Übelkeit – ich kam mir indiskret vor, als würde
ich in den Intimbereich des Warrant Officer eindringen… etwa so wie ein Schaulustiger bei einem Verkehrsunfall, der sich
allzunah an die Fahrzeugtrümmer herandrängt und dann vielleicht Schuldgefühle
bekommt, wenn ihm durch eine zerbrochene Windschutzscheibe ein blutiger
Haarschopf entgegenragt. Owen Meany wußte, daß ich nichts sagen konnte.
    »GENAU WAS SIE ERWARTET HABEN – ODER ?«
fragte er mich; mit einem Nicken wandte ich mich ab.
    Augenblicklich stürzte der Leichenbeschauer auf den Sarg zu. »Oh, wirklich – etwas mehr Mühe hätten sie sich aber schon
geben können!« meinte er. Übertrieben sorgfältig wischte er mit einem
Papiertuch ein kleines Rinnsal – irgendeine Flüssigkeit – im Mundwinkel des Warrant Officer ab. »Ich bin sowieso nicht für offene
Särge«, erklärte er dann. »Dieser letzte Anblick bricht den Angehörigen doch
nur das Herz.«
    »Ich glaube nicht, daß dieser Junge da jemals ein besonderes Talent
zum Herzensbrecher gehabt hat«, entgegnete Major Rawls. Doch ich wußte von
einem Herzen, das der Warrant Officer gebrochen
hatte; sein schlacksiger jüngerer Bruder litt an gebrochenem Herzen – bei ihm
ist noch mehr in die Brüche gegangen, dachte ich.
    Owen und ich aßen eine Tür weiter ein Eis, während Major Rawls und
der Leichenbeschauer sich über den »beknackten Pfaffen« stritten. Es war
Samstag. Weil der nächste Tag ein Sonntag war, konnte der Trauergottesdienst
nicht in der Baptistenkirche gehalten werden –, das gab Schwierigkeiten mit den
normalen Sonntagsgottesdiensten. Es gab jedoch einen baptistischen Geistlichen,
der im Bedarfsfall »angereist« kam und den Trauergottesdienst in der vielseitig
verwendbaren Kapelle der Leichenhalle hielt.
    »Von wegen ›angereist‹, er zieht durch die Gegend, weil er so ein
Arsch ist, daß er keine eigene Kirche bekommt!« sagte Major [822]  Rawls gerade; er beschuldigte den
Leichenbeschauer, er arbeite oft mit dem Baptisten zusammen – »nur wegen dem
Geld«.
    »In einer Kirche kostet es auch Geld – man kann sterben und sich
beerdigen lassen, wo man will, überall kostet es Geld«, verteidigte sich der
Leichenbeschauer.
    »MAJOR RAWLS HAT EINFACH KEINE LUST MEHR, SICH DIESEN BAPTISTEN ANZUHÖREN «, erklärte mir Owen.
    Nachher im Auto sagte Rawls: »Ich kann mir nicht vorstellen, daß
auch nur einer aus der Familie jemals zur Kirche gegangen ist – im Leben nicht!
Dieser Leichenfledderer hat ihnen doch nur eingeredet, ihn als Baptisten
beerdigen zu lassen. Wahrscheinlich hat er ihnen erzählt, irgendeine Religion müßten sie angeben – und dann hat er sie alle zu
Baptisten bekehrt. Er und dieser Scheißpfaffe – ein abartiges Paar!«
    »DIE KATHOLIKEN MACHEN DIESE SACHEN AM BESTEN« , warf Owen Meany ein.
    »Zum Teufel mit den Katholiken!« schimpfte Major Rawls.
    »NEIN, SIE MACHEN’S WIRKLICH AM BESTEN – MIT DER PASSENDEN
FEIERLICHKEIT, DEM PASSENDEN ZEREMONIELL UND IM PASSENDEN TEMPO «,
wandte Owen ein.
    Ich stellte erstaunt fest, daß Owen Meany die Katholiken gelobt hatte; doch es war sein voller Ernst. Nicht einmal
Major Rawls wollte sich mit ihm streiten.
    »Diese ›Sache‹ macht keiner gut – das ist
meine Meinung«, erklärte der Major.
    »ICH HAB NICHT GESAGT, DASS ES JEMAND GUT MACHT, SIR – ICH HAB NUR GESAGT, DIE KATHOLIKEN MACHEN’S AM BESTEN; BESSER ALS
ALLE ANDEREN «, stellte Owen Meany richtig.
    Ich fragte Owen, was das gewesen sei, dieses Rinnsal aus dem Mund
des Warrant Officer.
    »Das war nur Phenol«, meinte Major Rawls.
    »ES WIRD AUCH CARBOLSÄURE GENANNT«,

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