Owen Meany
eher an die Gerätschaften eines Kfz-Mechanikers oder
eines Elektromonteurs; vielleicht hatte der Junge nach der Schule einen Job und
war direkt von der Arbeit gekommen, um den Leichnam seines Bruders vom
Flughafen abzuholen.
Wenn das hier nur eine Begrüßungsfeier im engsten Familienkreis des
Toten war, lief es mir kalt den Rücken runter bei dem Gedanken, welche weniger
vorzeigbaren Angehörigen das dreitägige »Leichenpicknick« womöglich noch
mitfeierten. Als ich mir diesen Haufen ansah, hätte ich Owen Meanys Job für
kein Geld der Welt machen wollen – nicht für eine Million Dollar.
Niemand schien zu wissen, aus welcher Richtung das Flugzeug [809] ankommen würde. Ich verließ mich auf den Major
und den Bestatter; sie starrten als einzige in dieselbe Richtung, und ich
wußte, daß dies nicht die erste Leiche war, die sie zu Hause zu begrüßen
hatten. Und so schaute ich in die Richtung, in die sie sahen. Obwohl die Sonne bereits untergegangen war, durchfurchten noch grelle
Strahlen zinnoberroten Lichts den Himmel, und durch einen dieser Strahlen sah
ich Owens Maschine herabsinken –, als würde Owen, wo immer er war, von
irgendeiner Form von Licht begleitet.
Auf dem ganzen Flug von San Francisco nach Phoenix schrieb Owen
in sein Tagebuch; Seite um Seite schrieb er – er wußte, daß ihm nicht mehr viel
Zeit blieb.
»ICH WEISS SO VIELES«, schrieb er, »DOCH LÄNGST NICHT ALLES. NUR GOTT WEISS ALLES. MIR BLEIBT NICHT
MEHR GENUG ZEIT, UM NACH VIETNAM ZU KOMMEN. ICH MEINTE ZU WISSEN, DASS ICH
DORTHIN GEHEN WÜRDE. ICH MEINTE AUCH, ICH WÜRDE DAS DATUM KENNEN. ABER WENN ICH
BEIM DATUM RECHT HABE, DANN LIEGE ICH FALSCH DAMIT, DASS ES IN VIETNAM
PASSIERT. UND WENN ICH MIT VIETNAM RECHT HABE, IRRE ICH MICH BEIM DATUM.
MÖGLICHERWEISE IST ES TATSÄCHLICH ›NUR EIN TRAUM‹ – ABER ES WIRKT SO REALISTISCH ! DAS DATUM HAT AM
REALISTISCHSTEN GEWIRKT, ABER ICH WEISS NICHT – ICH BIN MIR NICHT MEHR SICHER.
ICH HABE KEINE ANGST, ABER ICH BIN SEHR NERVÖS. ERST
PASSTE MIR NICHT, DASS ICH ETWAS WUSSTE –, JETZT PASST MIR NICHT, DASS ICH NICHT ALLES WEISS! GOTT
STELLT MICH AUF DIE PROBE «, schrieb Owen Meany.
Das war bei weitem nicht alles; er war verwirrt. Er hatte mir den
Finger abgeschnitten, damit ich nicht nach Vietnam kam; aus seiner Sicht war
das ein Versuch, mich aus seinem Traum zu entfernen. Doch obwohl er mich vom
Krieg ferngehalten hatte, wurde – aus seinem Tagebuch – deutlich, daß ich in
seinem Traum [810] geblieben war. Er konnte mich
von Vietnam fernhalten, konnte mir einen Finger abschneiden; doch aus seinem
Traum konnte er mich nicht entfernen, und das beunruhigte ihn. Er wußte, wenn
er sterben würde, wäre ich dabei –, warum wußte er nicht. Aber wenn er mir den
Finger abgeschnitten hatte, um mir das Leben zu retten, war es ein Widerspruch,
daß er mich nach Arizona eingeladen hatte. Gott hatte ihm versprochen, daß mir
nichts Schlimmes passieren würde; daran klammerte sich Owen Meany.
»VIELLEICHT IST ES WIRKLICH ›NUR EIN TRAUM‹!« schrieb er immer wieder. » VIELLEICHT IST DAS DATUM NUR EIN
PRODUKT MEINER PHANTASIE! ABER ES WURDE IN STEIN GEHAUEN – ES IST ›IN STEIN GEHAUEN ‹!«
fügte er an; er meinte natürlich, daß er selbst sein eigenes Todesdatum bereits
in einen Grabstein eingraviert hatte, der für ihn bestimmt war. Doch jetzt war
er verunsichert, jetzt wußte er nicht mehr so recht.
»WIE SOLLTEN DENN VIETNAMESISCHE KINDER HIERHER NACH ARIZONA KOMMEN ?« fragte Owen
sich selbst; und auch Gott stellte er eine Frage: » MEIN GOTT – WENN ICH NICHT DIESE KINDER RETTE, WARUM HAST DU MICH DANN ALL DAS DURCHMACHEN
LASSEN?« Später fügte er an: »ICH MUSS AUF
DEN HERRN VERTRAUEN.«
Und einen Augenblick bevor sein Flugzeug auf der Landebahn
aufsetzte, machte er von der Luft aus noch eine flüchtige Beobachtung: »DA WÄRE ICH ALSO – HOCH ÜBER ALLEM. DIE PALMEN RAGEN KERZENGERADE
IN DEN HIMMEL – ICH BIN HOCH ÜBER DEN PALMEN. DER HIMMEL UND DIE PALMEN SIND SO
SCHÖN.«
Er stieg als erster aus dem Flugzeug, in seiner adretten Uniform,
die der Hitze die Stirn zu bieten schien, mit der schwarzen Armbinde, die
deutlich machte, in welcher Mission er hier war, den grünen Seesack in der
einen Hand – die dreieckige Pappschachtel in der anderen. Er ging direkt zum
Frachtraum des Flugzeugs; wenn ich auch seine Stimme nicht hörte, so konnte ich
doch sehen, daß er den Ladearbeitern und dem Gabelstaplerfahrer [811] Befehle gab –, sicher befahl er ihnen,
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