Owen Meany
bekannte gegnerische Verluste«. Und was
ist mit Operation Maeng Ho 6? Bei der gab es 6161
Mann »offiziell bekannte gegnerische Verluste«.
An Silvester 1966 waren 6 644 Angehörige der amerikanischen
Streitkräfte gefallen; Owen Meany errechnete sofort, daß diese Verluste um 483
Mann höher lagen, als sie der Feind bei Operation Maeng Ho hatte hinnehmen müssen.
»Wie kannst du dir nur so was merken, Owen?« fragte ihn meine
Großmutter.
Aus Saigon bat General Westmoreland um »frische Kräfte«; auch daran
erinnerte sich Owen. Laut State Department, laut Dean Rusk – wer erinnert sich
noch an ihn? – waren wir dabei, »einen Zermürbungskrieg zu gewinnen«.
»SO EINEN KRIEG GEWINNEN WIR NICHT«, meinte
Owen Meany.
Gegen Ende des Jahres 1967 waren 500 000 Mann in Vietnam. Das war,
als General Westmoreland sagte: »Wir haben eine wichtige Phase erreicht, an der
das Ende in Sicht kommt.«
» WELCHES ENDE ?«
fragte Owen Meany den General, »WAS IST MIT DEN ›FRISCHEN
KRÄFTEN‹? WO SIND DIE GEBLIEBEN?«
Ich glaube heute, daß Owen nichts vergaß; wer alles wissen will,
darf vor allem nichts vergessen.
Erinnert sich noch jemand an die Tet-Offensive? Das war im Januar
1968; Tet ist ein vietnamesischer Feiertag – das Pendant zu Weihnachten und
Neujahr bei uns – und im Vietnamkrieg war es üblich, während der Feiertage
einen Waffenstillstand einzuhalten. Doch in diesem Jahr griffen die
Nordvietnamesen mehr als 100 südvietnamesische Städte an – mehr als 30
Provinzhauptstädte. Das war in dem Jahr, als Präsident Johnson verkündete, er
würde sich nicht zur Wiederwahl stellen – erinnert man sich noch daran? Das war
das Jahr, als Senator Robert Kennedy ermordet wurde; vielleicht weiß man das ja
noch. Es war das Jahr, [136] als Richard Nixon
zum Präsidenten gewählt wurde; an den erinnert man sich vielleicht noch. Im
nächsten Jahr, 1969 – dem Jahr, als Ronald Reagan die Proteste gegen den
Vietnamkrieg als »den Feinden Amerikas in die Hände arbeiten« bezeichnete – waren immer noch eine halbe Million Amerikaner in Vietnam. Ich habe nie zu
ihnen gehört.
Es waren auch mehr als 30 000 kanadische Soldaten in Vietnam. Und
fast genauso viele Amerikaner gingen während des Vietnamkriegs nach Kanada; ich
war einer von diesen – einer, der blieb. Im Mai 1971 – als Lieutenant William
Calley wegen vorsätzlichen Mordes verurteilt wurde – war ich bereits dorthin
emigriert, hatte ich schon den Antrag auf die kanadische Staatsbürgerschaft
gestellt. Es war an Weihnachten 1972, als Präsident Nixon Hanoi bombardieren
ließ; dieser Angriff dauerte elf Tage, und mehr als 40 000 Tonnen Sprengstoff
wurden dabei eingesetzt. Wie Owen gesagt hatte: Hanoi wurde damit fertig.
Wann hat er jemals etwas gesagt, das nicht stimmte? Ich erinnere mich zum Beispiel daran, was er über Abbie Hoffman gesagt
hat – ist der Name noch jemandem ein Begriff? Er war es, der das Pentagon »aus
den Angeln heben« wollte; er war schon ein Clown. Er gründete die Youth
International Party, die »Yippies«; er beteiligte sich sehr aktiv an den
Protesten gegen den Krieg und betrachtete zugleich so ziemlich alles als einen
bedeutenden revolutionären Akt, was respektlos, komisch und vulgär war.
»GLAUBT DER SPINNER DENN, ER KANN IRGENDWEM HELFEN !« meinte
Owen.
Owen hielt mich aus Vietnam heraus – mit einem Trick, den nur er
zustande bringen konnte.
»BETRACHTE ES EINFACH ALS MEIN KLEINES GESCHENK AN
DICH« – so drückte er es aus.
Ich schäme mich bei der Erinnerung daran, daß ich wütend [137] war, weil er meinem Gürteltier die Krallen
genommen hatte. Weiß Gott, Owen gab mir mehr, als er mir jemals wegnahm – selbst
wenn man berücksichtigt, daß er mir meine Mutter genommen hat.
[138] 3
Der Engel
In ihrem Schlafzimmer hatte meine Mutter eine
Schneiderpuppe stehen; die Puppe stand kerzengerade neben dem Bett, wie ein
Diener, der sie eben wecken wollte; wie ein Wächter, der auf sie aufpaßte,
während sie schlief – wie ein Liebhaber, der gleich neben sie ins Bett
schlüpfen wollte. Meine Mutter konnte gut nähen; in einem früheren Leben hätte
sie Schneiderin sein können. Ihr Geschmack war ziemlich unkompliziert, und sie
nähte sich ihre Kleider selbst. Ihre Nähmaschine, die sich ebenfalls in ihrem
Schlafzimmer befand, hatte nichts mit dem antiken Stück gemeinsam, das wir
Kinder auf dem Dachboden mißbrauchten; Mutters Nähmaschine war ein geradezu
auffallend modernes Gerät, und sie wurde
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