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Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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völlig
vergessen hatte, daß sie da war, und im grauen Zwielicht des Zimmers dachte,
sie sei ein Eindringling – denn eine Gestalt, die so still neben einem
schlafenden Menschen stand, konnte ebensogut ein Angreifer wie ein Beschützer
sein.
    Wichtig ist: Diese Puppe hatte den Körper meiner Mutter – hundertprozentig. »Da muß man zweimal hingucken, um zu sehen, wer es ist«,
meinte Dan Needham immer.
    Dan Needham erzählte einige Geschichten über die Puppe, nachdem er
meine Mutter geheiratet hatte. Als wir in Dans [141]  Wohnung
im Internat der Gravesend Academy zogen, wurden die Puppe und die Nähmaschine
zu Dauerbewohnern des Eßzimmers, in dem wir niemals aßen. Meistens nahmen wir
die Mahlzeiten im Speisesaal der Schule ein, und wenn wir zu Hause aßen, dann
in der Küche.
    Dan versuchte nur wenige Male, die Puppe über Nacht im Schlafzimmer
zu behalten. »Tabby, was ist denn los?« fragte er in der ersten Nacht, weil er
dachte, meine Mutter sei aufgestanden. »Komm doch wieder ins Bett«, sagte er
ein anderes Mal. Und einmal fragte er die Puppe: »Bist du krank?« Und meine
Mutter, die neben ihm noch wach lag, murmelte: »Nein. Du etwa?«
    Natürlich war Owen Meany derjenige, der die beeindruckendsten
Begegnungen mit der Schneiderpuppe meiner Mutter hatte. Lange bevor Dan
Needhams Gürteltier Owens und mein Leben veränderte, spielten wir ein Spiel,
bei dem wir die Schneiderpuppe aus- und ankleideten. Meine Großmutter runzelte
darüber die Stirn – weil wir Jungen waren. Meine Mutter wiederum war mißtrauisch – anfangs sorgte sie sich um ihre Kleider. Doch sie vertraute uns; wir hatten
immer saubere Hände und hängten Blusen, Röcke und Kleider stets ordentlich auf
die Bügel – und legten die Unterwäsche sorgsam gefaltet zurück in die
Schubladen. Meine Mutter wurde zusehends toleranter, ja sie machte uns
gelegentlich sogar Komplimente, wenn wir eine Kleiderkombination entworfen
hatten, auf die sie selbst nicht gekommen war. Und oft war Owen so begeistert
von unserer Kreation, daß er meine Mutter bat, diese ungewöhnliche Kombination
einmal selbst anzuprobieren.
    Nur Owen brachte es fertig, daß meine Mutter errötete.
    »Die Bluse und den Rock da hab ich schon seit Jahren«, meinte sie.
»Ich hab nur nie dran gedacht, sie mal mit dem Gürtel zu kombinieren. Du bist
wirklich ein Genie, Owen!« lobte sie ihn.
    »IHNEN STEHT DOCH EINFACH ALLES !«
erwiderte Owen dann, und sie wurde rot.
    [142]  Hätte Owen ihr weniger
schmeicheln wollen, dann hätte er auch sagen können, daß es einfach war, meine
Mutter oder ihre Schneiderpuppe zu kleiden, da all ihre Kleider schwarz und
weiß waren; alles paßte zusammen.
    Da gab es dieses eine rote Kleid, und wir haben sie nie so weit
gebracht, daß sie es mochte; sie betrachtete es nie als Teil ihrer Garderobe,
doch ich denke, der Wheelwright in meiner Mutter ließ nicht zu, daß sie es
weggab oder fortwarf. Sie hatte es in einem ganz besonders noblen Geschäft in
Boston entdeckt; sie mochte den enganliegenden Stoff, den tief ausgeschnittenen
Rücken, die enge Taille und den glockenförmigen Rock, doch die Farbe mochte sie
nicht – scharlachrot, wie ein Weihnachtsstern. Sie wollte es nachmachen – in
Schwarz oder Weiß – wie alle anderen Kleider, doch ihr gefiel der Schnitt so
sehr, daß sie es sich in Schwarz und in Weiß nähte.
»Weiß für den Sommer«, meinte sie, »und schwarz für den Winter.«
    Als sie wieder nach Boston fuhr und das Kleid zurückgeben wollte, so
sagte sie, habe sie erfahren, daß das Geschäft bis auf die Grundmauern
abgebrannt war. Eine Zeitlang konnte sie sich nicht an den Namen des Ladens
erinnern; doch sie fragte die Leute in der Nachbarschaft, schrieb an die
frühere Adresse. Es gab Probleme mit der Versicherung, und es dauerte Monate,
bis sie endlich mit jemandem sprechen konnte, und dann war es nur ein
Rechtsanwalt. »Aber ich habe das Kleid nie bezahlt!« sagte meine Mutter. »Es
war sehr teuer – ich wollte es nur anprobieren. Ich will es nicht haben. Ich
will nicht Monate später eine Rechnung dafür bekommen. Es war sehr teuer«,
wiederholte sie; doch der Rechtsanwalt sagte, das sei kein Problem. Alles sei
verbrannt. Die Verkaufsbelege. Das Inventar. Die Warenbestände. »Das Telefon
ist geschmolzen«, sagte er. »Die Kasse ebenfalls«, fügte er hinzu. »Dieses
Kleid ist für die jetzt wirklich das geringste Problem. Es ist Ihr Kleid«, sagte der Rechtsanwalt. »Sie haben Glück
gehabt«, sagte er zu ihr, und zwar

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