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Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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oft benutzt.
    In all den Jahren, ehe sie Dan Needham heiratete, hatte meine Mutter
weder gearbeitet noch eine berufliche Ausbildung erhalten, und obgleich es ihr
nie an Geld fehlte – meine Großmutter war ihr gegenüber recht großzügig –,
konnte sie sehr gut wirtschaften und gab nur ganz wenig für sich selbst aus.
Sie brachte immer wieder wunderschöne Kleider aus Boston nach Hause mit, kaufte
sie aber nie; sie zog sie der Schneiderpuppe an und kopierte sie. Dann brachte
sie die Originale zurück nach Boston; sie sagte, sie erzähle dort immer das
gleiche, und nie reagiere jemand verärgert – ganz im Gegenteil, man habe
Mitleid mit ihr und nehme die Kleider anstandslos zurück.
    »Meinem Mann gefällt es nicht«, erklärte sie immer.
    Wenn sie das Großmutter und mir erzählte, lachte sie jedesmal. »Die
müssen denken, daß ich mit einem regelrechten Tyrannen verheiratet bin! Dem
Kerl gefällt aber auch gar nichts !« Das [139]  Lachen meiner Großmutter, die sich just daran
stieß, daß meine Mutter nicht verheiratet war, klang recht gezwungen, doch
dieser Scherz war ja wirklich verzeihlich und unschuldig, und ich glaube kaum,
daß Harriet Wheelwright etwas dagegen hatte, wenn meine Mutter ein bißchen Spaß hatte.
    Und Mutter nähte wunderschöne Kleider; ganz einfache, wie ich schon
gesagt habe – meist in Schwarz oder Weiß, aber sie waren aus gutem Stoff und
standen ihr vorzüglich. Die Kleider, Blusen und Röcke, die sie mit nach Hause
brachte, waren bunt und hatten Muster, doch meine Mutter imitierte den Schnitt
meisterhaft in einfachem Schwarz und Weiß. Wie bei vielen Dingen war sie auch
hier technisch perfekt, ohne jedoch im geringsten originell oder einfallsreich
zu sein. Das Spielchen, das sie auf dem perfekten Körper der Schneiderpuppe
trieb, muß den sparsamen, neuenglischen Teil ihres Wesens erfreut haben – die
Wheelwright in ihr.
    Meine Mutter haßte Dunkelheit. Sie konnte es nie hell genug haben.
Ich betrachtete die Puppe als eine Art Komplize in ihrem Kampf gegen die Nacht.
Sie zog die Vorhänge nur zu, wenn sie sich zum Zubettgehen entkleidete; sobald
sie Nachthemd und Morgenrock anhatte, zog sie die Vorhänge wieder auf. Wenn sie
die Nachttischlampe neben dem Bett ausknipste, ergoß sich von draußen alles,
was da an Licht war, in ihr Zimmer – und da war immer ein wenig Licht. Da waren
die Straßenlaternen in der Front Street, außerdem ließ Mr.   Fish einige Lampen
in seinem Haus die ganze Nacht an, und auch meine Großmutter ließ immer ein
Licht brennen – das unsinnigerweise die Garagentür beleuchtete. Und zu den
Lampen in der Nachbarschaft gesellte sich das Licht der Sterne, oder das des
Mondes, und dieses unbeschreibliche Schimmern vom östlichen Horizont, das man
zu sehen bekommt, wenn man an der Atlantikküste wohnt. Es gab keine Nacht, in
der meine Mutter nicht vom Bett aus die beruhigende Gestalt der Schneiderpuppe
sehen konnte; sie war nicht nur ihr Verbündeter gegen die Dunkelheit, sie war
ihr Double.
    [140]  Die Puppe war nie nackt. Was
nicht heißen soll, daß meine Mutter so verrückt aufs Nähen war, daß immer ein
in Arbeit befindliches Kleid auf der Puppe hing; vielleicht tat sie es
anstandshalber oder aus einem kindlichen Spieltrieb heraus – der noch aus der
Zeit herrühren mochte, als sie ihre Puppen anzog –, jedenfalls war die
Schneiderpuppe stets bekleidet. Und nicht etwa salopp; Mutter hätte es nie
geduldet, daß die Puppe nur in Unterhosen dastand. Ich meine, die Puppe war
immer vollständig angezogen – und wirklich gut angezogen.
    Ich erinnere mich daran, wie ich, wenn ich aus einem Alptraum
hochschreckte oder wenn ich aufwachte und mir schlecht war, den dunklen Gang
von meinem Zimmer zu ihrem ging – mich bis zu ihrem Türgriff vortastete. Wenn
ich dann in ihrem Zimmer war, spürte ich, daß ich in eine andere Zeitzone
gereist war; nach der Dunkelheit meines Zimmers und dem rabenschwarzen Flur
schimmerte das Zimmer meiner Mutter hell – verglichen mit dem Rest des Hauses
war es hier immer kurz vor Sonnenaufgang. Und da stand die Schneiderpuppe,
angezogen für das echte Leben, für die Welt draußen. Manchmal glaubte ich, die
Puppe sei meine Mutter, die aus dem Bett gestiegen war und zu meinem Zimmer
gehen wollte – die vielleicht gehört hatte, wie ich hustete oder im Schlaf
weinte, die vielleicht ganz früh aufgestanden oder gerade erst, sehr spät, nach
Hause gekommen war. Manchmal erschreckte mich die Puppe auch; wenn ich

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