Owen Meany
so, daß sie sich schuldig fühlte.
[143] »Um Himmels willen«, meinte
meine Großmutter, »man kann einen Wheelwright so leicht dazu bringen, daß er
sich schuldig fühlt. Nimm dich zusammen, Tabitha, und hör auf zu jammern. Es
ist ein hübsches Kleid – es ist eine Weihnachts farbe«,
entschied meine Großmutter. »Zu Weihnachten gibt es immer Feste. Du wirst
phantastisch darin aussehen.« Doch nie sah ich meine Mutter das Kleid aus dem
Schrank herausnehmen; und auf die Schneiderpuppe gelangte es – nachdem meine
Mutter es kopiert hatte – überhaupt nur, wenn Owen es ihr anzog. Nicht einmal
Owen brachte meine Mutter so weit, daß sie das Kleid mochte.
»Es mag ja eine Weihnachtsfarbe sein«, sagte sie, »aber ich habe nicht die richtige Farbe in dem Kleid – schon gar
nicht an Weihnachten.« Sie meinte, sie sehe bleich darin aus, wenn sie keine
Sonnenbräune hatte, und wer ist in New Hampshire schon an Weihnachten
braungebrannt?
»DANN TRAGEN SIE ES DOCH IM SOMMER!« schlug
Owen vor.
Aber solch ein strahlend rotes Kleid im Sommer zu tragen, erschien
ihr zu angeberisch; es machte zuviel aus ihrer Bräune, fand meine Mutter. Dan
schlug vor, sie solle es doch für seine schäbige Kollektion von Bühnenkostümen
stiften. Doch das hielt meine Mutter für Verschwendung, und überhaupt: keiner
der Jungs von der Gravesend Academy, und auch keine andere Frau aus unserer
Stadt hatte eine Figur, die diesem Kleid gerecht wurde.
Dan Needham übernahm nicht nur die Regie bei den Theateraufführungen
in der Gravesend Academy, sondern erweckte auch die Laien-Schauspieltruppe
unserer kleinen Stadt wieder zum Leben, die früher glanzlosen Gravesend
Players. Dan brachte jeden dazu mitzuspielen; er überredete die Hälfte der
Lehrer an der Academy, den Schauspieler in sich zu entdecken, und er weckte die
schlummernden Fähigkeiten vieler Einwohner der Stadt, indem er sie aufforderte,
es doch einmal in einer seiner Inszenierungen zu versuchen. Er brachte sogar
meine Mutter dazu, die weibliche Hauptrolle zu spielen – wenn auch nur ein
einziges Mal.
[144] So gern meine Mutter auch sang,
war sie doch scheu, wenn es ums Schauspielen ging. Sie erklärte sich nur einmal
bereit, unter Dans Leitung zu spielen, und ich glaube, sie tat das nur, um zu
dokumentieren, daß sie ernsthafte Absichten hatte, obwohl sie so lange um sich
werben ließ, und auch nur, wenn Dan ihr Partner war – wenn er der männliche
Hauptdarsteller war – und nur dann, wenn er nicht zugleich ihren Liebhaber spielte. Sie sagte, sie
wolle nicht, daß in der Stadt alle möglichen Gerüchte über ein Verhältnis
zwischen ihnen entstanden. Nachdem sie geheiratet hatten, trat meine Mutter
nicht mehr auf; ebensowenig Dan. Er war immer der Regisseur; sie war immer die
Souffleuse. Meine Mutter hatte eine gute Stimme für diese Aufgabe: leise, aber
deutlich. Da machten sich die vielen Gesangstunden doch bezahlt, denke ich.
An das Stück, in dem meine Mutter die Hauptrolle spielte, kann ich
mich kaum noch erinnern. Es ist so lange her, daß ich mich weder an die Namen
der Charaktere noch an das Bühnenbild erinnern kann. Die Gravesend Players
spielten in der Stadthalle, und dort wurde nicht so viel Wert auf die Kulisse
gelegt. Ich kann mich aber noch daran erinnern, daß nach diesem Theaterstück
ein Kinofilm gedreht wurde; der hieß Gaslicht, und
ich habe ihn mehrere Male gesehen. Meine Mutter spielte Ingrid Bergmans Rolle;
sie war die Frau, die von ihrem bösartigen Mann in den Wahnsinn getrieben wird.
Und Dan war der Schurke – er hatte Charles Boyers Rolle. Obwohl Dan und meine
Mutter ein Ehepaar spielten, so gibt es doch in diesem Stück herzlich wenig an
Liebesbezeugungen auf der Bühne; das war die einzige Zeit und der einzige Ort,
wo ich sah, wie Dan meiner Mutter Haß entgegenbrachte.
Dan meint, es gibt heute immer noch Leute in Gravesend, die ihn
schief ansehen wegen der Charles-Boyer-Rolle, die er damals spielte; sie
schauen ihn an, als habe er vor langer Zeit diesen
Fehlschlag geschlagen – und als habe er es absichtlich getan.
Und nur einmal während der Aufführungen dieses Stücks – und zwar bei
der Generalprobe – trug meine Mutter das rote Kleid. [145] Kann
sein, daß es in der Szene war, wo sie sich abends schön gemacht hat, um mit
ihrem schrecklichen Mann ins Theater (oder sonstwohin) zu gehen, doch er hat
ein Bild versteckt und beschuldigt nun sie, es versteckt zu haben, und er
bringt sie sogar so weit, daß sie glaubt, sie habe
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