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Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Regen angefangen
hatte, begann es zu hageln. In New Hampshire kann man sich nicht einmal auf den
Juli verlassen. Hagelkörner prasselten auf den Buick herab wie Gewehrsalven,
und Dan und meine Mutter sprangen ins Auto; Tante Martha kreischte auf und
bedeckte sich den Kopf – sie und Onkel Alfred rannten zum Haus. Selbst Noah und
Simon spürten das Stechen des Hagels; auch sie zogen sich zurück. Jemand
brüllte, der Hagel habe ein Sektglas zerbrochen. Die Hagelkörner trafen mit
solcher Wucht auf, daß die Leute, die ganz nahe beim Fenster standen, einen
Schritt vom Glas zurücktraten. Dann kurbelte meine Mutter das Autofenster
herunter; ich dachte, sie wolle mir zum Abschied winken, doch sie rief mich zu
sich. Ich zog mir die Jacke über den Kopf, aber die Hagelkörner waren immer
noch schmerzhaft. Eines, so groß wie [180]  ein
Rotkehlchenei, traf mich genau am Ellbogen, und ich zuckte zusammen.
    »Auf Wiedersehen, mein Liebling«, sagte Mutter, zog meinen Kopf zu
sich ins Auto und gab mir einen Kuß. »Oma weiß, wo wir hinfahren, aber sie sagt
es dir nur im Notfall.«
    »Gute Reise!« sagte ich. Als ich mich zum Haus umdrehte, kam mir
jedes Fenster wie ein Porträt vor – Gesichter, die auf mich und das frisch
vermählte Paar schauten. Fast alle taten sie das – nur die beiden heiligen
Männer von Gravesend nicht; die sahen nicht zu mir herab, und auch nicht auf
das Hochzeitspaar. Rev. Lewis Merrill und Rev. Dudley Wiggin standen, jeder
allein hinter einem kleinen Fenster, am linken und rechten Ende des Hauses und
beobachteten den Himmel. Unterzogen sie den Hagelsturm einer religiösen
Betrachtung? fragte ich mich. Rector Wiggin, so stellte ich mir vor,
betrachtete das Wetter aus der Perspektive eines ehemaligen Piloten – er
stellte schlicht fest, was für ein Scheißtag zum Fliegen das war. Doch Pastor
Merrill suchte den Himmel nach einer Ursache für einen so heftigen Sturm ab.
Gab es irgendwo in der Heiligen Schrift einen Hinweis auf die Bedeutung von
Hagel? In ihrem Eifer, ihre Kenntnisse passender Bibelstellen unter Beweis zu
stellen, hatte keiner der beiden Geistlichen meiner Mutter und Dan die höchst
beruhigende Segnung des Tobias mit auf den Weg gegeben: »Und laß uns beide
gesund bleiben und alt werden.«
    Schade, daß keiner der beiden daran gedacht hatte, doch die
Apokryphen sind in protestantischen Bibelausgaben normalerweise nicht
enthalten. Dan Needham und meine Mutter, der nur noch ein Jahr blieb bis zu dem
Zusammentreffen mit dem Ball, den Owen Meany schlug, sollten nicht beide gesund
bleiben und alt werden.
    Ich war schon fast wieder im Haus, als Mutter mich nochmals rief.
»Wo ist Owen?« wollte sie wissen. Es dauerte eine Weile, ehe ich ihn hinter
einem der Fenster entdeckte, denn er war oben, im [181]  Schlafzimmer
meiner Mutter; die Gestalt der Frau im roten Kleid stand neben ihm, das Double
meiner Mutter, ihre Schneiderpuppe. Heute weiß ich, daß es an diesem Tag drei heilige Männer in unserem Haus in der Front Street gab – drei, die ihr Augenmerk auf das Wetter richteten. Auch Owen sah nicht auf das
junge Paar, das in die Flitterwochen aufbrach. Owen beobachtete gleichfalls den
Himmel, hatte dabei einen Arm um die Puppe geschlungen und drückte sich gegen
ihre Hüfte, und sein sorgenvolles Gesicht war himmelwärts gewandt. Da hätte ich
bereits wissen müssen, nach welchem Engel er suchte; doch es war ein hektischer
Tag, meine Mutter fragte nach ihm – so rannte ich einfach nach oben und holte
ihn zu ihr herunter. Der Hagel schien ihm nichts auszumachen; die Körner
prasselten um ihn herum auf den Wagen, doch ich habe nicht gesehen, daß eines
ihn getroffen hätte. Er streckte den Kopf durchs Fenster ins Auto, und meine
Mutter gab ihm einen Kuß. Dann fragte sie ihn, wie er nach Hause komme. »Du
läufst nicht zu Fuß oder fährst mit dem Rad, Owen – nicht bei diesem Wetter«,
sagte sie. »Sollen wir dich mitnehmen?«
    » JETZT, WO SIE IN DIE FLITTERWOCHEN FAHREN ?«
fragte er.
    »Komm rein«, meinte sie. »Dan und ich nehmen dich mit.«
    Er schien sich schrecklich zu freuen; daß er mit meiner Mutter in
die Flitterwochen mitfahren durfte – wenn auch nur ein kleines Stück! Er
versuchte, sich an ihr vorbei ins Auto zu quetschen, doch seine Hose war naß
und blieb am Kleid meiner Mutter kleben.
    »Warte mal«, sagte sie. »Laß mich raus. Du steigst zuerst ein.« Sie
wollte damit sagen, daß er klein genug war, um in der Mitte über dem
Kardantunnel zu sitzen, zwischen ihr

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