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Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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aus der heraus er zu Owen gesagt hatte:
»Schlag los!« Hätte er damals schon alles gewußt, was noch kommen würde, dann
hätte er sein rundliches Gesicht in noch viel mehr Tränen gebadet, als er es an
diesem Tag in der Hurd’s Church tat, während er mit uns und um uns als Team
trauerte.
    Natürlich saß Polizeichef Pike allein für sich; Polizisten sitzen
immer gern in der Nähe der Tür. Und Chief Pike weinte nicht. Für ihn war meine
Mutter immer noch ein »Fall«; für ihn war die Messe eine gute Gelegenheit, sich
die Verdächtigen anzusehen – denn in Chief Pikes Augen waren wir alle
verdächtig. Chief Pike war sicher, daß sich der Baseballdieb unter den
Trauernden befand.
    Er war immer »in der Nähe der Tür«, der gute Chief Pike. Als ich ein
paarmal mit seiner Tochter ausging, dachte ich immer, er [189]  würde jeden Moment durch eine Tür – oder ein
Fenster – hereingestürzt kommen. Zweifellos lag es an meiner Furcht vor seinem
plötzlichen Auftauchen, daß ich mich einmal mit der Unterlippe in der
Zahnspange seiner Tochter verfing, weil ich mich zu schnell von ihrem Kuß
zurückzog – in der Gewißheit, ich hätte seine Stiefel ganz in meiner Nähe
knarren hören.
    An jenem Tag in der Kirche konnte man diese Stiefel auch beinahe an
der Tür knarren hören, als warte er darauf, daß sich der gestohlene Baseball
aus der Tasche des Schuldigen befreite und anklagend über den dunkelroten
Teppich rollte. Für Chief Pike war der Diebstahl des Balles, der meine Mutter
getötet hatte, keineswegs ein geringes Vergehen; für ihn war es ohne jeden
Zweifel das Werk eines Schwerverbrechers. Daß meine arme Mutter von dem Ball
getötet worden war, schien Chief Pike nicht zu interessieren; daß der arme Owen
Meany den Ball geschlagen hatte, interessierte unseren Polizeichef nur
geringfügig mehr – und auch nur insofern, als Owen dadurch ein Motiv haben
konnte, den in Rede stehenden Ball in seinen Besitz zu bringen. Deshalb
richtete unser Polizist weder seine Augen auf den geschlossenen Sarg meiner
Mutter, noch schenkte er dem ehemaligen Piloten Captain Wiggin besondere
Beachtung, und auch für das leichte Stottern des tiefbetroffenen Pastor Merrill
interessierte er sich kaum. Vielmehr bohrte unser Polizeichef seinen
durchdringenden Blick in den Rücken von Owen Meany, der auf einem wackeligen
Stapel von sechs oder sieben Gebetbüchern saß; Owen schwankte hin und her, als
bringe ihn der Blick des Polizisten aus dem Gleichgewicht. Er saß so nahe wie
möglich bei der Bankreihe, in die sich unsere Familie gesetzt hatte; er saß
dort, wo er auch bei der Hochzeit meiner Mutter gesessen hatte – hinter den
Eastmans im allgemeinen, und hinter Onkel Alfred im besonderen. Dieses Mal riß
Simon keine Witze darüber, daß Owens marineblauer Sonntagsschulanzug doch
reichlich unangebracht war – diese Miniaturausgabe [190]  des
Anzuges, den sein Vater trug. Mr.   Meany saß wie versteinert neben Owen.
    »Ich bin die Auferstehung und das Leben, spricht der Herr«, sagte
Rev. Dudley Wiggin. »Selig sind die Toten, die im Herrn sterben.«
    »Allmächtiger Gott, barmherziger Vater, deine Güte hat kein Ende«,
sagte Rev. Lewis Merrill. »Nimm an unser Gebet für deine Dienerin Tabby und
leite sie in das Land des Lichtes und der Freude, in die Gemeinschaft der
Heiligen.«
    Im trüben Licht der Kirche glänzte nur Lydias Rollstuhl – im Gang
neben der Bank meiner Großmutter, in der Harriet Wheelwright ganz allein saß.
Dan und ich saßen in der Bank hinter ihr. Die Eastmans saßen hinter uns.
    Rev. Captain Wiggin las aus der Offenbarung – »Und der Herr wird die
Tränen von allen Angesichtern abwischen« –, woraufhin Dan zu weinen begann.
    Der Rector, der wie immer Glauben als Kampf darstellen wollte, fuhr
mit Jesaja fort: »Er wird den Tod verschlingen auf ewig.« Jetzt hörte ich, wie
auch meine Tante Martha zu weinen begann, doch die beiden waren nichts gegen
Mr.   Chickering, der schon zu weinen begonnen hatte, noch ehe die Geistlichen
mit ihren Lesungen aus dem Alten und Neuen Testament angefangen hatten.
    Pastor Merrill stotterte sich vor zu den Klageliedern Jeremias:
»Denn der Herr ist gütig dem, der auf ihn harrt.«
    Dann wurden wir durch den dreiundzwanzigsten Psalm geleitet, als ob
es in Gravesend auch nur eine Seele gäbe, die ihn nicht auswendig kannte: »Der
Herr ist mein Hirte. Mir wird nichts mangeln« und so weiter. Als wir an der
Stelle waren, die lautet: »Und ob ich schon wanderte im

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