Owen Meany
finstren Tal, fürchte
ich kein Unglück«, da begann ich, Owens Stimme aus all den anderen
herauszuhören.
Als der Rector sagte: »Tröste die Trauernden«, sorgte ich mich, [191] wie laut Owens Stimme wohl beim letzten Lied
werden würde; ich wußte, daß er gerade dieses Lied mochte.
Als der Pastor sagte: »Wir bitten dich, hilf uns inmitten der Dinge,
die wir nicht verstehen können«, summte ich bereits das Schlußlied und
versuchte damit, schon im voraus, Owens Stimme einzudämmen.
Und als Mr. Wiggin und Mr. Merrill mühsam unisono sagten: »Wir
vertrauen Tabitha deiner ewigen Liebe an«, wußte ich, daß es soweit war; fast
hätte ich mir die Hände auf die Ohren gepreßt.
Was kann man bei einem plötzlichen und unerwarteten Tod anderes
singen als dieses eingängige Lied, eines der wichtigsten Auferstehungslieder im
Gesangbuch, das bekannte »Krönt ihn mit vielen Kronen«, bei dem der Organist
alle Register zieht?
Denn wann sonst, wenn nicht beim Tod eines geliebten Menschen, ist
es uns ein dringenderes Bedürfnis, von der Auferstehung zu hören, vom ewigen
Leben – von Ihm, der dem Grab entstieg?
Krönt ihn mit vielen Kronen, den Herrscher auf dem Thron,
Hört, wie der Engel Chor ertönt, zu ehren Gottes Sohn.
Wach auf, mein Herz und sing ihm, der sein Leben gab für dich,
Und preis ihn als den einz’gen König, heut’ und ewiglich.
Krönt ihn, den Herrn der Liebe; seht seine Wunden an,
Die Zeichen seiner Herrlichkeit, was er für uns getan!
Die Engel in des Himmels Höh’n lobpreisen seine Macht,
Daß Jesus Christus, Gottes Sohn, dies Wunder hat vollbracht.
Ganz besonders inspiriert wurde Owen jedoch von der dritten
Strophe.
KRÖNT IHN, DEN HERRN DES LEBENS, IHN, DER DAS GRAB
BESIEGT,
DER SIEGREICH AUFERSTANDEN IST, DER NIEMALS UNTERLIEGT,
[192] ER IST’S, DEN WIR LOBPREISEN HIER, DER
STARB UND AUFERSTAND
DER FÜR EIN EW’GES LEBEN STARB UND SO DEN TOD GEBANNT.
Auch danach, bei der Beerdigung, hatte ich immer noch Owens
schreckliche Stimme im Ohr, als Mr. Wiggin sagte: »Mitten im Leben sind wir vom
Tod umfangen.« Doch es schien mir, als summe Owen immer noch diese Melodie,
denn ich konnte nichts anderes hören; heute glaube ich, daß das in der Natur
der Kirchenlieder liegt; man will sie ein ums andere Mal wiederholen; sie sind
ein Teil jedes Gottesdienstes, und oft der einzige Teil bei einem
Beerdigungsgottesdienst, der einem alles annehmbar erscheinen läßt. Natürlich ist ein Begräbnis unannehmbar; und ganz besonders
unannehmbar im Falle meiner Mutter, denn wir standen – nach der beruhigenden
Benommenheit in der Hurd’s Church – nun draußen, an einem schwülen, drückenden
Sommertag, wie er für Gravesend typisch ist, mit den höchst unpassenden
Kinderstimmen, die vom nahegelegenen Sportplatz der High-School zu uns
herüberdrangen.
Den Friedhof am Ende der Linden Street konnte man von der
High-School und der Junior High-School aus sehen. Letztere besuchte ich zwar nur
zwei Jahre, doch das war lang genug, um – immer wieder – die häufigsten
Bemerkungen der Schüler zu hören, die im Hausaufgabensaal gefangen waren und an
den Fenstern saßen, die auf den Friedhof hinausgingen: irgend etwas in der Art,
daß es da draußen auf dem Friedhof sicherlich weniger langweilig sei.
»In Gewißheit und Hoffnung auf die Auferstehung zum ewigen Leben
durch unseren Herrn Jesus Christus befehlen wir dem Allmächtigen Gott unsere
Schwester Tabitha an und übergeben ihren Leib der Erde«, sagte Pastor Merrill.
In dem Moment bemerkte ich, daß Mrs. Merrill sich die Ohren zuhielt. Sie war
schrecklich blaß, abgesehen von den Rückseiten ihrer plumpen [193] Oberarme, die schlimm anzuschauen waren, weil sie
an ihnen einen heftigen Sonnenbrand hatte; sie trug ein weites, ärmelloses
Kleid, mehr grau als schwarz – aber vielleicht hatte sie kein passendes
schwarzes Kleid ohne Ärmel, und man konnte nicht von ihr erwarten, daß sie
einen solchen Sonnenbrand in Ärmel zwängte. Sie schwankte leicht und kniff die
Augen zu. Zuerst dachte ich, sie presse die Hände auf die Ohren, weil sie
vielleicht stechende Kopfschmerzen hatte; ihr strohiges, blondes Haar sah aus,
als würde es jeden Moment Feuer fangen, und einer ihrer Füße hatte sich aus der
Sandale verirrt. Eines ihrer kränklichen Kinder lehnte sich an ihre Hüfte.
»Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zum Staube«, sagte ihr Mann, doch Mrs.
Merrill konnte ihn nicht gehört haben; sie hielt sich nicht nur die Ohren
Weitere Kostenlose Bücher