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Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Zuwendung entgegenbrachten.
    Dan war der nächste. Auch er setzte sich auf mein Bett. Er erinnerte
mich daran, daß er mich adoptiert hatte; auch wenn ich für jeden in Gravesend
Johnny Wheelwright war, so war ich doch praktisch auch Johnny Needham,
jedenfalls in der Schule, und das bedeutete, daß ich an die Gravesend Academy
gehen konnte – wenn die Zeit reif war, genauso wie meine Mutter es gewollt
hatte – als legitimes Kind eines Lehrers, genauso als wäre ich Dans richtiger
Sohn. Dan sagte, er betrachte mich sowieso als seinen Sohn und er würde niemals
eine Stelle annehmen, die ihn von der Academy wegführte, bis ich dort meinen
Abschluß hatte. Er sagte, er könne verstehen, wenn ich unser Haus in der Front
Street schöner fände als seine Wohnung im Internat, daß er [196]  sich jedoch freuen würde, wenn ich dort wohnen
bliebe, bei ihm, falls ich mich da nicht zu sehr eingeengt fühlte. Ich könnte
ja ein paarmal in der Woche bei ihm schlafen und ein paarmal in der Front
Street – ganz wie ich wollte.
    Ich sagte, das sei eine gute Idee, und bat ihn, Tante Martha zu sagen – und zwar so, daß sie sich nicht verletzt fühlte –, daß ich nach Gravesend
gehörte und daß ich nicht »hoch in den Norden« ziehen wollte. Ganz ehrlich
machte mich schon allein die Vorstellung, mit meinen Vettern zusammenzuleben,
fix und fertig, und ich war davon überzeugt, daß ich von sündigen Begierden für
Hester verzehrt werden würde, wenn ich mir erlaubte, bei den Eastmans zu
wohnen. Darum, das Tante Martha zu sagen, habe ich Dan nicht gebeten.
    Wenn eine Person, die man liebt, unerwartet stirbt, dann verliert
man sie nicht auf einmal; man verliert sie über einen langen Zeitraum, Stück
für Stück – es kommt keine Post mehr für sie, ihr Geruch verschwindet vom
Kopfkissen und selbst aus den Kleidern im Schrank. Ganz allmählich wird man
sich der Stücke bewußt, die weg sind. Und wenn der Tag kommt, an dem einem ein
ganz bestimmtes Stück fehlt, so daß man von dem Gefühl, daß sie jetzt fort ist,
für immer, ganz überwältigt ist – dann kommt ein neuer Tag und ein neues Stück,
das einem ganz besonders fehlt.
    Am Abend nach ihrem Begräbnis merkte ich, daß sie weg war, als es
für Dan Zeit wurde, in seine Wohnung zurückzukehren. Mir wurde klar, daß Dan
die Wahl hatte – er konnte in seine Wohnung gehen, allein, oder ich konnte mit
ihm gehen, oder er konnte in der Front Street bleiben, ja er konnte sogar in
dem anderen Bett in meinem Zimmer schlafen, denn ich hatte Großmutter schon
gesagt, daß ich Noah oder Simon in dieser Nacht nicht dahaben wollte. Doch
sobald ich erkannt hatte, welche Wahl Dan hatte, wußte ich auch, daß – wie
immer er sich nun entschied – es letztlich keine befriedigende Wahl gab. Mir
wurde klar, daß sämtliche Übernachtungsmöglichkeiten, die sich Dan boten,
unbefriedigend [197]  waren, für immer; und daß es
für immer ein unbefriedigender Gedanke war, ihn sich allein vorzustellen – und
daß auch dann noch etwas fehlte, wenn er mit mir zusammen war.
    »Soll ich mit dir in deine Wohnung kommen?« fragte ich ihn.
    »Soll ich hier bei dir bleiben?« fragte er mich.
    Doch wo war der Unterschied?
    Ich sah ihm nach, wie er die Front Street hinunterging, auf die
hellerleuchteten Gebäude der Academy zu. Es war einer jener warmen Abende, an
denen man gelegentlich auf den Terrassen Schaukelstühle hin und her wippen und
Fliegengittertüren zuschlagen hörte. Die Kinder in der Nachbarschaft spielten
mit einer Taschenlampe herum; glücklicherweise war es selbst für die
amerikanischsten unter den Kindern schon zu dunkel zum Baseballspielen.
    Meine Vettern waren ungewöhnlich zahm nach dieser Tragödie. Noah
sagte ständig: »Ich kann’s nicht glauben!« Dann legte er mir die Hand auf die
Schulter. Und Simon machte die zwar reichlich taktlose, aber unschuldige
Bemerkung: »Wer hätte das gedacht, daß er einen Ball so fest schlagen kann?«
    Meine Tante Martha rollte sich, den Kopf auf Onkel Alfreds Schoß,
auf dem Sofa im Wohnzimmer zusammen; sie lag reglos da, wie ein kleines
Mädchen, das Ohrenschmerzen hat. Meine Großmutter saß wie immer in ihrem
thronähnlichen Sessel, im gleichen Zimmer; sie und Onkel Alfred tauschten
gelegentlich Blicke aus und schüttelten den Kopf. Einmal setzte sich Tante
Martha mit wirrem Haar auf und schlug mit der Faust auf den Couchtisch. »Das
ergibt doch nicht den geringsten Sinn !« rief sie;
dann bettete sie ihren Kopf wieder in Onkel Alfreds

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