Owen Meany
Schoß und weinte eine
Zeitlang. Auf diesen Ausbruch reagierte meine Großmutter weder mit einem
Kopfschütteln noch mit einem Nicken; sie schaute hoch zur Decke – ließ offen,
ob sie dort nach Beherrschung oder nach Geduld suchte, oder nach einem
möglichen Sinn, den Martha nicht hatte erkennen können.
[198] Hester hatte sich nicht
umgezogen; sie trug noch das Kleid, das sie auf der Beerdigung angehabt hatte;
es war ein einfaches, gutsitzendes Kleid aus schwarzem Leinen, wie es meiner
Mutter bestimmt gefallen hätte, und Hester sah darin besonders erwachsen aus,
obwohl es fürchterlich verknittert war. Sie schob sich ständig die Haare aus
dem Nacken nach oben, weil es so heiß war, doch die wilden Strähnen fielen ihr
immer wieder ins Gesicht und in den Nacken, so daß sie es schließlich entnervt
wieder herabfallen ließ. Die kleinen Schweißtropfen auf der Oberlippe verliehen
ihrer Haut die Glätte und den Glanz von Glas.
»Hast du Lust spazierenzugehen?« fragte sie mich.
»Klar«, antwortete ich.
»Sollen Noah und ich mitkommen?« fragte Simon.
»Nein«, gab sie zurück.
In den meisten Häusern in der Front Street brannte noch das Licht im
Erdgeschoß; die Hunde liefen noch im Freien herum und bellten; doch die Kinder,
die mit der Taschenlampe gespielt hatten, waren hineingerufen worden. Vom
Bürgersteig schlug uns noch immer Hitze entgegen; an warmen Sommerabenden in
Gravesend spürte man die Hitze zuerst zwischen den Beinen. Hester ergriff meine
Hand, als wir dahingingen.
»Das ist erst das zweitemal, daß ich dich im Kleid sehe«, meinte
ich.
»Ich weiß«, entgegnete sie.
Es war stockdunkel, der Himmel war bewölkt, und kein Stern war zu
sehen; der Mond war nur eine matte Scheibe im Nebel.
»Du darfst nicht vergessen«, sagte sie, »daß es deinem Freund Owen
noch schlechter geht als dir.«
»Weiß ich«, gab ich zu, doch ich spürte deutlich, wie Eifersucht in
mir aufstieg – auch darauf, daß Hester auch an Owen dachte.
Beim ›Gravesend Inn‹ bogen wir von der Front Street ab; ich zögerte
etwas, ehe ich die Pine Street überquerte, doch Hester schien zu wissen, wo wir
hingingen – ihre Hand zog mich weiter [199] voran.
Als wir in der Linden Street waren und an der dunklen High-School vorbeikamen,
war uns beiden klar, wo wir hingingen. Ein Polizeiwagen stand auf dem Parkplatz
der High-School – wahrscheinlich auf der Suche nach jugendlichen Randalierern,
oder vielleicht stand er da, damit die Schüler den Parkplatz und das
Sportgelände in der Nacht nicht für ungebührliche Zwecke mißbrauchten.
Wir hörten einen Motor laufen; er klang so tief und röhrend, daß es
nicht das Polizeiauto sein konnte, und als wir an der High-School vorbei waren,
wurde das Motorengeräusch lauter. Ich dachte nicht, daß auf dem Friedhof ein
Motor gebraucht wurde, aber genau von dort kam das Geräusch. Heute glaube ich,
daß ich ihr Grab bei Nacht sehen wollte, weil ich wußte, wie sehr sie die
Dunkelheit gehaßt hatte; ich glaube, ich wollte mich davon überzeugen, daß auch
nachts wenigstens ein bißchen Licht auf den Friedhof
fiel.
Das Licht der Straßenlaternen in der Linden Street drang ein gutes
Stück in den Friedhof hinein und ließ ganz deutlich den Granitlaster der Meanys
erkennen, der am Haupteingang im Leerlauf vor sich hinbrummte. Hester und ich
konnten hinter dem Steuer Mr. Meanys ernstes Gesicht sehen, das immer dann
sichtbar wurde, wenn er kräftig an seiner Zigarette zog. Er saß allein im
Führerhaus, doch ich wußte, wo Owen war.
Mr. Meany schien keineswegs überrascht, als er mich sah, doch Hester
machte ihn nervös. Hester machte jeden nervös: bei guter Beleuchtung, aus der
Nähe gesehen, wirkte sie so alt wie sie war: wie eine große, frühreife
Zwölfjährige. Doch aus einer gewissen Entfernung, und wenn es etwas dunkler
wurde, sah sie aus wie achtzehn – und so, als könne es noch eine Menge Ärger
mit ihr geben.
»Owen hatte noch was auf dem Herzen«, vertraute uns Mr. Meany an. »Aber
er ist schon ’ne ganze Weile dabei. Ich bin sicher, er ist gleich fertig.«
[200] Wieder spürte ich Eifersucht in
mir aufsteigen bei dem Gedanken, daß Owen mir mit seiner Sorge um die erste
Nacht meiner Mutter unter der Erde zuvorgekommen war. In der schwülen Luft
waren die Abgase des Dieselmotors unerträglich, aber ich war sicher, daß Mr.
Meany sich nicht dazu bewegen ließ, den Motor abzustellen; wahrscheinlich ließ
er ihn laufen, damit Owen sich mit seinen Gebeten
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