Owen Meany
beeilte.
»Ich will dir was sagen«, meinte Mr. Meany zu mir. »Ich werde das
befolgen, was deine Mutter gesagt hat. Sie hat mir gesagt, ich soll Owen nicht
dran hindern, wenn er auf die Academy gehen will. Das werd ich auch nicht tun«,
meinte er. »Ich hab’s ihr versprochen«, fügte er hinzu. Ich brauchte Jahre, um
zu erkennen, daß Mr. Meany von dem Augenblick an, an dem Owen diesen Ball
geschlagen hatte, ihn an gar nichts mehr »hinderte«, was er wollte.
»Sie hat mir auch gesagt, ich solle mir keine Sorgen um Geld machen«, fuhr Mr. Meany fort. »Ich weiß nicht, was
damit jetzt wird.«
»Owen wird ein volles Stipendium bekommen«, sagte ich.
»Damit kenn ich mich nicht aus«, entgegnete Mr. Meany.
»Wahrscheinlich schon, wenn er eins will. Deine Mutter hat von seinen Kleidern gesprochen«, sagte er. »Die ganzen Blazer und
Schlipse.«
»Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte ich.
»Oh, ich mache mir keine Sorgen«, entgegnete er. »Ich verspreche
nur, daß ich mich nicht einmische – das wollte ich sagen.«
Da tauchte weit hinten am Friedhof ein Lichtschein auf, und Mr. Meany
sah, wie Hester und ich in diese Richtung schauten.
»Er hat eine Taschenlampe dabei«, meinte Mr. Meany. »Ich weiß nicht,
warum er so lange braucht. Er ist jetzt wirklich lang genug da.« Er trat aufs
Gaspedal, als wolle er Owen mit dem Aufheulen des Motors zur Eile antreiben.
Doch nach einer Weile meinte er: »Vielleicht geht ihr besser mal hin und guckt
nach, wozu er so lange braucht.«
[201] Der Lichtschein zwischen den
Gräbern war nur schwach, und Hester und ich gingen vorsichtig auf ihn zu, weil
wir nicht die Blumen anderer Leute zertreten oder mit dem Schienbein gegen
einen der kleineren Grabsteine knallen wollten. Je weiter wir uns von Mr.
Meanys Lastwagen entfernten, desto schwächer wurde das Motorengeräusch – doch
zugleich schien es dumpfer zu klingen, so als komme es von einem Motor tief im
Innern der Erde, der sie drehte und Tag und Nacht einander abwechseln ließ. Wir
konnten Fetzen von Owens Gebeten vernehmen; er hatte die Taschenlampe wohl
mitgenommen, damit er im Gebetbuch lesen konnte, dachte ich – vielleicht las er
alle Gebete, die darin standen.
»INS PARADIES MÖGEN DICH DIE ENGEL GELEITEN«, las
er.
Hester und ich blieben stehen; sie stand hinter mir und schloß die
Arme um meine Hüfte. Ich konnte ihre Brüste an den Schulterblättern spüren, und – weil sie etwas größer war – auch ihren Hals an meinem Hinterkopf; ihr Kinn
drückte meinen Kopf nach unten.
»VATER UNSER«, las Owen, »WIR BETEN ZU DIR FÜR DIE, DIE WIR LIEBEN, ABER NICHT MEHR SEHEN
KÖNNEN.« Hester drückte mich; sie gab mir einen Kuß auf jedes
Ohr. Mr. Meany ließ den Motor aufheulen, doch Owen schien das nicht zu
bemerken; er kniete vor dem ersten Blumenbouquet, am Fuß des Erdhügels, vor dem
Grabstein meiner Mutter. Das Gebetbuch lag vor ihm auf der Erde, die
Taschenlampe hatte er sich zwischen die Knie geklemmt.
»Owen?« sagte ich, doch er hörte mich nicht. »Owen!« wiederholte ich
lauter. Er schaute auf, doch nicht zu mir herüber; ich meine, er sah hoch – er hatte seinen Namen gehört, doch meine Stimme
hatte er nicht erkannt.
»ICH HÖRE DICH!« rief er ärgerlich, »WAS WILLST DU? WAS TUST DU? WAS WILLST DU VON MIR?«
»Owen, ich bin’s«, sagte ich; ich spürte,
wie Hester hinter mir [202] nach Luft schnappte.
Ihr war plötzlich klargeworden – mit wem Owen zu
sprechen glaubte.
»Ich bin’s, und Hester«, wiederholte ich, als mir klar wurde, daß
Owen die Gestalt von Hester, die hinter mir stand und sich bedrohlich über mich
zu beugen schien, vielleicht auch fehlinterpretieren könnte, weil er ständig
auf der Suche nach diesem Engel war, den er aus dem Schlafzimmer meiner Mutter
verscheucht hatte.
»ACH, DU BIST ES«, sagte er enttäuscht, »HALLO, HESTER. ICH HAB DICH GAR NICHT ERKANNT – DU SIEHST SO
ERWACHSEN AUS, WENN DU EIN KLEID ANHAST. ES TUT MIR LEID«, meinte
er.
»Macht nichts, Owen«, sagte ich.
»WIE GEHT ES DAN ?« wollte er wissen.
Ich sagte ihm, daß es Dan gut gehe, daß er aber in seine
Internatswohnung zurückgegangen war, allein, um dort zu schlafen; daraufhin
wurde Owen sehr geschäftig.
»UND DIE SCHNEIDERPUPPE IST WOHL AUCH NOCH DORT? IM
ESSZIMMER ?« fragte er.
»Sicher«, gab ich zurück.
»DAS IST ABER GAR NICHT GUT«, meinte
er. »DAN SOLLTE NICHT MIT DIESER PUPPE ALLEINE SEIN.
WENN ER JETZT NUR DA RUMSITZT UND SIE ANSTARRT? WENN ER IN
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