Owen Meany
Owen ließ sich nicht von
seiner Meinung abbringen.
Der Rector versicherte Owen, es sei eine alte Kirchentradition,
nicht immer alle Strophen der Lieder zu singen, doch irgendwie vermittelte Owen
uns den Eindruck, daß die Kirchentradition – wie alt sie auch sein mochte – nicht auf so festen Füßen stand wie [241] das geschriebene
Wort. Wenn da fünf Strophen im Gesangbuch standen, dann mußten wir sie auch
alle fünf singen.
»›VOLL SORGE, VOLL SCHMERZEN, VOLL BLUT, KURZ VORM TOD ‹«, wiederholte
er, »KLINGT SEHR NACH WEIHNACHTEN.«
Mary Beth Baird tat kund, das Problem könne gelöst werden, wenn ihr
erlaubt werde, das Jesuskind ihre Zuneigung spüren zu lassen, doch es schien
nur zwei Dinge zu geben, bei denen sich Owen und Barb Wiggin einig waren,
nämlich daß sich Mary Beth nicht am Jesuskind vergreifen und die Kühe sich nicht
bewegen durften.
Als alle im Stall Stellung bezogen hatten, was schließlich doch nach
dem Ende der vierten Strophe von »Wir sind die
Könige« geschah, sang der Chor »In einem armen Stalle«, während wir Owen Meany
schamlos anbeteten und verehrten.
Vielleicht hätte man die Sache mit den Windeln noch einmal
überdenken sollen. Owen hatte sich dagegen gewehrt, bis zum Kinn darin
eingepackt zu werden; er wollte die Arme freihaben – vielleicht, um einen
stolpernden Esel oder eine Kuh abzuwehren. Und so hatten sie seinen Körper bis
zu den Achseln eingepackt, und dann noch mehr Windeln um seine Brust gewickelt,
selbst Schultern und Hals darin eingehüllt – Barb Wiggin legte besonderen Wert
darauf, daß Owens Hals bedeckt war, denn sie fand, sein Adamsapfel sähe »ziemlich
erwachsen« aus. Das stimmte; er stand hervor, besonders wenn Owen lag; doch
auch seine Augen sahen »ziemlich erwachsen« aus, denn sie quollen hervor, oder
sie blickten gehetzt aus ihren Höhlen. Seine Gesichtszüge waren winzig, aber
ausgeprägt und wirkten überhaupt nicht babyhaft – erst recht nicht in der
»Lichtsäule«, deren greller Schein auf ihn herabfiel. Er hatte dunkle Ringe
unter den Augen, die Nase war zu spitz für die eines Babys, und seine
Backenknochen standen zu sehr hervor. Warum wir ihn nicht einfach ganz in ein
Bettuch einwickelten, weiß ich nicht. Die »Windeln« wirkten eher wie unzählige
Schichten Mullbinden, so daß Owen aussah wie das Opfer [242] einer
schrecklichen Verbrennung, geschrumpft zu anormaler Größe in einem Feuer, das
nur seine Arme und sein Gesicht unversehrt gelassen hatte –, und die
»Lichtsäule« und die andächtige Haltung von uns allen, die wir um ihn
herumstanden, erweckte den Anschein, Owen liege im Operationssaal und würde
gleich ausgewickelt werden, und wir wären seine Chirurgen und OP- Schwestern.
Nachdem »In einem armen Stalle« zuende war, las Mr. Wiggin wieder
aus dem Lukasevangelium: »›Und da der Engel von ihnen gen Himmel fuhr, sprachen
die Hirten untereinander: Laßt uns nun gehen nach Bethlehem und die Geschichte
sehen, die da geschehen ist, die uns der Herr kundgetan hat. Und sie kamen
eilend und fanden beide, Maria und Josef, dazu das Kind in der Krippe liegen.
Als sie es aber gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus, das zu ihnen von
diesem Kinde gesagt war. Und alle, vor die es kam, wunderten sich über das, was
ihnen die Hirten gesagt hatten. Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte
sie in ihrem Herzen.‹«
Während der Rector las, verbeugten sich die Könige vor dem Jesuskind
und überreichten ihm die üblichen Geschenke – verzierte Kästchen und Dosen und
glänzende Schmuckstückchen, die von den Zuschauerplätzen aus schwierig
voneinander zu unterscheiden waren, aber allesamt recht königlich aussahen.
Einige der Hirten überreichten bescheidenere, bäuerlichere Geschenke; einer der
Hirten gab dem Jesuskind ein Vogelnest.
»WAS SOLL ICH DENN MIT EINEM VOGELNEST ANFANGEN?« fragte
Owen verächtlich.
»Das ist ein Glücksbringer«, erklärte der Rector.
»STEHT DAS SO IN DER BIBEL ?« wollte
Owen wissen.
Jemand aus der Zuschauermenge bemerkte, das Vogelnest sähe aus wie
welkes Gras, jemand anderes sagte, es sähe aus wie »Mist«.
»Also bitte«, mahnte Dudley Wiggin.
»Ist doch egal, wie es aussieht !« sagte
Barb Wiggin mit einer [243] Stimme, die
überzukippen drohte. »Die Geschenke sind Symbole !«
Mary Beth Baird sah ein größeres Problem. Da die Stelle aus dem
Lukasevangelium mit der Bemerkung aufhörte: »Maria behielt all diese Worte und
bewegte sie in ihrem Herzen« – die Worte,
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