Owen Meany
der Kanzel predigt (man sieht vor allem seine Hängebacken), bemüht
sich, ihre Hand vom Schoß der Tochter fernzuhalten. Irgendwie wissen alle
beide, daß die Tochter, wenn die Mutter ihr den Rock auch nur noch ein weiteres
Mal glattstreicht, in Tränen ausbrechen wird.
Der Sohn zieht einen winzigen lila LKW aus der Jackettasche; der Vater nimmt ihm das Ding ab, drückt dem Jungen dabei
ordentlich die Hand zusammen und verbiegt ihm die Finger. »Wenn du dich noch
einmal so danebenbenimmst, gehst du mir heute den ganzen Tag nicht mehr aus dem
Haus!«
»Den ganzen Tag?« fragt der Junge ungläubig zurück. Schon allein die
Vorstellung, sich auch nur einen Teil des Tages nicht danebenzubenehmen, lastet
schwer auf dem Jungen und erfüllt ihn mit einer Klaustrophobie, die so
unergründlich ist wie die in der Kirche selbst.
Die Tochter hat zu weinen begonnen.
»Warum weint sie?« fragt der Junge seinen Vater, erhält aber keine
Antwort. »Hast du deine Periode?« fragt er nun seine Schwester, und die Mutter
beugt sich über den Schoß ihrer Tochter zu ihrem Sohn und zwickt ihn in den
Oberschenkel – zwickt kräftig und verdreht dabei den Speck, den sie zwischen
den Fingern hat. Jetzt weint auch er. Zeit für das Gebet! Die Kniebänke werden
nach unten geklappt, die Familie läßt sich nach vorne fallen. Der Sohn versucht
es mit dem alten Gesangbuchscherz; er schiebt das Gesangbuch die Bank entlang
zu der Stelle, auf die sich seine Schwester nach dem Gebet wieder setzen wird.
»Jetzt ist’s aber gut«, murmelt der Vater im Gebet.
Aber wie soll man nur beten, wenn man an die Periode dieses Mädchens
denken muß? Sie wirkt alt genug, um sie bereits zu haben, aber auch noch so
jung, daß es das erste Mal sein könnte. [249] Sollte
ich das Gesangbuch beiseiteschieben, ehe sie mit dem Beten fertig ist und sich
darauf setzt? Sollte ich das Gesangbuch nehmen und dem Jungen damit eins
überziehen? Eigentlich würde ich lieber den Vater verprügeln; und die Mutter
würde ich gern ins Bein zwicken, so wie sie eben ihren Sohn gezwickt hat. Wie
soll man da beten?
Es ist Zeit, Canon Mackies Talar einmal kritisch zu beleuchten; er
hat die Farbe von Erbsensuppe. Es ist Zeit, die Warze des Laienhelfers Harding
kritisch zu würdigen. Und dessen Stellvertreter Holt ist ein Rassist; er
jammert immer, die Farbigen aus der Karibik hätten die Bathurst Street
übernommen, erzählt eine schreckliche Geschichte, wie er im Copy-Shop in der
Schlange stand – und zwei junge Schwarze ein ganzes Pornoheft kopieren ließen.
Für dieses Vergehen, so Laienhelfer Holt, sollte man die beiden jungen Männer
verhaften. Wie soll man da beten?
Zu den Werktagsandachten kommt fast niemand – sie verlaufen ruhig
und in heiterer Gelassenheit. Das Surren des langsam drehenden
Deckenventilators ist ein gleichmäßiges Geräusch, das die Konzentration fördert – und von der vierten, fünften Reihe ab spürt man einen gleichmäßigen Luftstrom
im Gesicht. Bei den klimatischen Verhältnissen hier in Kanada hat der
Ventilator die Aufgabe, die warme Luft, die nach oben steigt, zurück nach unten
auf die fröstelnde Gemeinde zu drücken. Aber man kann sich mit seiner Hilfe
auch gut vorstellen, in einer Missionskirche irgendwo in den Tropen zu sitzen.
Es gibt Leute, die meinen, die Grace Church wäre zu hell erleuchtet.
Die Pfeiler aus dunkel gebeiztem Holz, die sich von der weiß verputzten, hoch
gewölbten Decke abheben, unterstreichen noch, wie gut beleuchtet die Kirche
ist; obgleich Stein und Buntglas die vorherrschenden Baumaterialien sind, gibt
es keine Winkel, die in Dunkelheit oder Düsternis versinken. Kritische Stimmen
sprechen davon, daß das Licht zu künstlich sei und damit zu modern für ein so
altes Gebäude; doch der Deckenventilator [250] ist
sicher nicht weniger modern – und wird kaum von Mutter Natur selbst angetrieben –, und dennoch beschwert sich über ihn niemand.
Die hölzernen Strebepfeiler sind recht kunstvoll gefertigt – mit
Holztäfelung, und trotz der Höhe der Pfeiler ist die Holzmaserung zu erkennen;
weder Harold Crosby noch irgendein anderer Engel des Herrn hätte zwischen ihnen
verborgen werden können. Und jede Vorrichtung, um ihn gen Himmel oder zur Erde
herab schweben zu lassen, wäre nur allzu deutlich sichtbar. Das Wunder der Geburt
des Erlösers würde an diesem Ort weniger wunderbar erscheinen – und ich habe in
der Tat hier in der Grace Church noch kein Krippenspiel erlebt. Ich habe dieses
Wunder bereits
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