Paganinis Fluch - Kepler, L: Paganinis Fluch - Paganinikontraktet
wachte er davon auf, dass das Telefon klingelte.
Jemand ging über den Fußboden im Esszimmer, der leise knarrte.
Kurz darauf hörte man Schritte auf der Treppe. Ohne anzuklopfen, betrat seine Mutter das Schlafzimmer.
»Setz dich hin«, sagte Alice ernst.
Als er sie sah, bekam er Angst. Sie hatte geweint und ihre Wangen waren immer noch feucht.
»Mutter, ich verstehe nicht …«
»Sei still«, unterbrach sie ihn leise. »Der Rektor deiner Schule hat mich angerufen, und er …«
»Er hasst mich, weil ich …«
»Ruhe«, schrie Alice.
Es wurde still, sie hob eine zitternde Hand zum Mund und hielt sie so, während ihr Tränen die Wangen herabliefen.
»Es geht um Greta«, brachte sie schließlich heraus. »Sie hat sich das Leben genommen.«
Axel sah sie an und versuchte zu verstehen, was sie gesagt hatte.
»Nein, denn ich …«
»Sie hat sich geschämt«, unterbrach Alice ihn. »Sie hätte üben müssen, du hast es versprochen, aber ich wusste es, im Grunde wusste ich es … Sie hätte nicht hier sein dürfen, sie … ich sage nicht, dass es deine Schuld ist, Axel, denn das ist es nicht. Sie hat sich selbst verraten, als es darauf ankam, und konnte es einfach nicht ertragen zu …«
»Mutter, ich …«
»Still«, unterbrach sie ihn erneut. »Es ist vorbei.«
Alice verließ das Zimmer, und wie in einem rauschhaften Nebel stand Axel von seinem Bett auf, taumelte, öffnete den Geigenkasten, holte das schlanke Instrument heraus und warf es mit voller Wucht auf den Boden. Der Hals brach, und der Holzkörper flatterte an den losen Saiten, er trat darauf, und Holzspäne wirbelten durch die Luft.
»Axel! Was tust du da?«
Sein jüngerer Bruder Robert war ins Zimmer gestürmt und versuchte ihn aufzuhalten, aber Axel stieß ihn von sich. Robert schlug mit dem Rücken gegen den großen Schrank, ging aber trotzdem erneut auf Axel zu.
»Axel, du hast dich verspielt, was macht das schon?«, versuchte es Robert. »Ich bin Greta begegnet, sie hat sich auch verspielt, jeder kann sich …«
»Halt’s Maul«, schrie Axel. »Du wirst sie mir gegenüber nie wieder erwähnen.«
Robert sah ihn an, wandte sich ab und verließ das Zimmer.Axel trat weiter auf die Holzspäne, bis man nicht mehr erkennen konnte, dass es sich einmal um eine Geige gehandelt hatte.
Shiro Sasaki aus Japan gewann den Johan-Fredrik-Berwald-Wettbewerb. Greta hatte das leichtere Stück von Beethoven gewählt, sich aber trotzdem verspielt. Als sie nach Hause kam, hatte sie eine große Menge Schlaftabletten genommen und sich in ihrem Zimmer eingeschlossen. Sie wurde erst am nächsten Morgen gefunden, als sie nicht zum Frühstück herunterkam.
Axels Erinnerungen versinken wie eine Unterwasserstadt in Schlick und Seegras, verschwinden aus seinen Gedanken. Er betrachtet Beverly, die ihn mit Gretas großen Augen ansieht. Er schaut auf den Stofflappen in seiner Hand und die Flüssigkeit auf dem Tisch, das glänzende Intarsienmotiv der Frau, die auf einer Zither spielt.
Das Licht von draußen fällt auf Beverlys runden Hinterkopf, als sie sich umdreht und die Geigen betrachtet, die an der Wand hängen.
»Ich wünschte, ich könnte Geige spielen«, sagt sie.
»Wir können ja gemeinsam einen Kurs belegen«, erwidert er lächelnd.
»Das würde ich gerne tun«, sagt sie ernst.
Er legt den Lappen auf den Tisch und spürt in seinem Inneren die große Müdigkeit rauschen. Die hallende Klaviermusik durchströmt den Raum, sie wird ohne Dämpfer gespielt, und die Töne fließen träumerisch ineinander.
»Armer Axel, du willst schlafen«, sagt sie.
»Ich muss arbeiten«, murmelt er kaum hörbar.
»Dann eben heute Abend«, sagt sie und steht auf.
64
Aufzug abwärts
Kriminalkommissar Joona Linna hält sich in seinem Büro bei der Landeskriminalpolizei auf. Er sitzt am Schreibtisch und liest Carl Palmcronas Lebensbericht. In einer fünf Jahre alten Aufzeichnung erzählt Palmcrona, dass er nach Västerås reiste, um bei der Abschlussfeier seines Sohnes am letzten Schultag vor den Ferien dabei sein zu können. Als sich bei feuchtem Wetter alle mit Regenschirmen auf dem Schulhof versammelten und »Die Blütezeit nun kommet« sangen, hatte er in einiger Entfernung gestanden. Palmcrona beschrieb die weiße Jeans und weiße Jeansjacke seines Sohns, seine langen blonden Haare und dass der Junge »einen Zug um Nase und Augen hatte, der mich in Tränen ausbrechen ließ«. Er war nach Stockholm zurückgefahren und hatte gedacht, dass sein Sohn alles wert war, was er
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