Pain - Bitter sollst du buessen
zu Hause angerufen hatte, um zu zeigen, dass er ihre Privatnummer kannte. Um ihr Angst einzujagen. Doch sie hatte vergeblich gewartet.
Aber zugehört hatte er bestimmt. In dem Wissen, dass er ihre Nerven bis zum Zerreißen strapazierte. Nach dem Anruf bei ihr zu Hause hatte sie beschlossen, ihn herauszufordern. Ihre Sendung behandelte in dieser Nacht das Thema Kommunikation, insbesondere durch Liebesbriefe, Abschiedsbriefe und sogar Drohbriefe. Die Karte, die sie in ihrem Wagen gefunden hatte, brachte sie jedoch nicht zur Sprache. Die Zuhörerreaktionen waren begeistert gewesen. Und noch war Zeit für John, sie anzurufen. Er hatte sie ja schon zweimal erst nach Sendeschluss kontaktiert.
Allerdings war es jetzt bereits nach Mitternacht. Praktisch schon Freitag – der Tag nach Annie Segers Geburtstag.
Sam schaltete ihre Gerätschaften aus, betrachtete eine Sekunde lang die unbeleuchteten Tasten für die verschiedenen Telefonleitungen und gesellte sich dann zu Tiny und Melanie, die im Flur warteten.
»Keine Spinner heute Nacht«, bemerkte Tiny.
»Bis jetzt«, schränkte Sam ein.
Tiny schob seine Brille höher auf die Nase. »Du bist enttäuscht, nicht wahr? Du kommst ja richtig in Fahrt, wenn er anruft.«
»In Fahrt?«, wiederholte Sam, im Begriff, aus der Haut zu fahren. »Das ist absoluter Unsinn! Aber wenn er sich nicht meldet, können wir nicht rausfinden, wo er sich aufhält.« Sie fügte nicht hinzu, dass sie ihn mit einem Köder aus seinem Versteck locken, an den Haken nehmen, an Land ziehen und dafür sorgen wollte, dass er nie wieder jemanden terrorisierte. Ja, in gewisser Weise brannte sie darauf zu erfahren, wie er tickte, doch mehr noch als das wollte sie ihn von der Straße haben, wollte, dass er aus ihrem Leben verschwand.
»Glaubst du wirklich, dass er nach Feierabend noch einmal anruft?«, fragte Melanie und kramte in ihrer Handtasche, bis sie eine Schachtel Tic Tac gefunden hatte. »Würde er damit nicht sein Unglück herausfordern? Ich meine, er wird sich doch denken können, dass du inzwischen Anzeige bei der Polizei erstattet hast. Er weiß nicht, ob sie die Anrufe zurückverfolgt – oder ob wir es tun.« Sie ließ etwa ein halbes Dutzend der winzigen Pfefferminzbonbons in ihre hohle Hand rollen und warf sie sich in den Mund.
»Vielleicht weiß der Kerl, was für ein Geizkragen George Hannah ist«, knurrte Tiny und fuhr dann mit der Hand durch die Luft. »Ich habe nichts gesagt, okay? Ich will in der nächsten Personalversammlung kein Wort davon hören.«
»Wir alle denken doch genauso«, beruhigte Melanie ihn, gähnte und hob einladend ihre halb leere Tic-Tac-Box. »Möchte jemand?«
»Ich bin brav«, sagte Tiny ablehnend.
»Wenn du meinst.«
Sam schüttelte den Kopf. »Nein, danke.«
Melanie gähnte erneut. »Himmel, bin ich heute tot. Teilt sich jemand eine Cola light mit mir?« Sie war bereits auf dem Weg zur Küche.
»Ich habe noch einen Rest.« Tiny ging zurück ins Studio, um alles für ›Licht aus‹ vorzubereiten.
Sam war direkt hinter ihm, hielt aber die Ohren gespitzt und horchte aufs Telefon. »Für mich kein Koffein mehr«, sagte sie zu Melanie. Es war ein Uhr am Freitagmorgen; Sams Schicht war für die Woche vorüber, und sie konnte sich nicht vorstellen, künftig auch noch am Wochenende zu arbeiten.
»Könntest du mir einen Dollar für den Automaten leihen?«, fragte Melanie, als sie um eine Ecke bogen und eine Wand voll Bilder ortsansässiger Prominenter passierten, die WSLJ interviewt hatte.
»Ich denke, so viel habe ich gerade noch.«
»Gut.«
Sie näherten sich der Küche, und Sam kramte ihre Geldbörse heraus und reichte Melanie einen Schein. Die ersten Akkorde leiser Instrumentalmusik wehten durch die Flure. ›Licht aus‹ hatte angefangen – und das Telefon hatte noch nicht geklingelt. »Hat Eleanor etwas darüber verlauten lassen, dass ›Mitternachtsbeichte‹ künftig sieben- statt fünfmal die Woche laufen soll?«, fragte Sam.
»Ich habe so etwas munkeln gehört. Gator ist nicht eben glücklich darüber –« Melanie redete nicht weiter. »Was zum Teufel … Vielleicht solltest du lieber nicht hier reinkommen.« Melanie blieb im Türrahmen stehen und starrte nach links, in Richtung der Fenstertüren. Der Dollarschein, den Sam ihr gegeben hatte, war zu Boden gesegelt.
»Warum nicht?« Sam reckte den Hals, um Melanie über die Schulter blicken zu können.
Das Blut stockte ihr in den Adern. Da stand eine Torte – mit weißem Zuckerguss und roten
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