Pain - Bitter sollst du buessen
Mail.
»Ach, Schätzchen.« Sam sandte ihr rasch eine Antwort, schlug vor, sich zum Kaffee zu treffen, und wählte dann Leannes Privatnummer. Die Leitung war besetzt, also konnte sie keine Nachricht hinterlassen. Leanne hatte ihr schon öfter ähnliche Mails geschickt, doch Sam hatte das Gefühl, dass das Mädchen nun ernsthaft in Schwierigkeiten steckte. Vielleicht rief sie in dieser Nacht ja in ihrer Sendung an.
Wie Annie Seger es getan hatte?
»Hör auf damit«, sagte sie laut.
Sam hielt sich vor Augen, dass sie Leanne auch noch später anrufen könnte, schubste Charon von ihrem Schoß und stieg die Treppe hinauf ins Obergeschoss. In ihrem Schrank schob sie die langen Kleider auseinander, bückte sich und öffnete die Tür zum Dachboden. Als sie den Lichtschalter betätigte, hörte sie ein wütendes Summen, dann erblickte sie ein Hornissennest in einer Ecke des Spitzgiebels. Glänzende schwarz-gelbe Körper krochen über das Nest. Abgesehen von den Hornissen sah sie Spinnen in Netzen lauern, die von den alten, freiliegenden Dachsparren hingen. Sie fragte sich, ob auch Fledermäuse hier Unterschlupf gefunden hatten, erkannte ein bisschen Kot, aber keine geflügelten kleinen Felltierchen, die kopfüber an den Balken baumelten. Auf dem Dachboden roch es nach Moder und Schimmel – das war nicht der rechte Ort für wichtige Unterlagen. Sie würde Schränke im Arbeitszimmer oder im Gästezimmer einbauen müssen. Mit zusammengebissenen Zähnen kroch sie behutsam über den groben Holzfußboden und betrachtete den Staub … War er aufgewühlt? Die Oberfläche der Kisten … Sie erschien ihr sauberer als erwartet, als hätte jemand sie abgewischt, um nach der Beschriftung zu suchen … Sie schüttelte den Kopf. Was war nur los mit ihr? Niemand hatte ihren Dachboden betreten, und die Kisten waren noch relativ staubfrei, weil sie sie erst vor drei Monaten aussortiert und hierher gebracht hatte. Vor drei Monaten war sie hier gewesen – und seitdem niemand mehr.
Und dennoch konnte sie den nagenden Zweifel in ihrem Kopf nicht besiegen. War jemand in ihr Haus eingedrungen? Sie biss sich auf die Unterlippe und rief sich innerlich zur Vernunft.
Gründlich studierte sie die Beschriftung der einzelnen Kisten, kramte in alten Steuerbescheiden, Schulunterlagen, Zeugnissen und Patientenakten, bis sie auf die Kiste mit den Informationen über Annie Seger stieß. Sie zerrte sie in den Schrank und hörte die Hornissen summen. Ein wütendes Insekt folgte ihr zwischen den langen Röcken ihrer Kleider hindurch, ließ sich auf ihrem Kopf nieder, und als sie nach dem Tier schlug, stach es sie seitlich in den Hals.
»Verdammt.« Sie schloss die Tür zum Dachboden, verriegelte sie und trug die Kiste ins Schlafzimmer, wo sie sie einfach auf den Boden fallen ließ. Der Stich an ihrem Hals pochte. Sie musste etwas gegen das Nest unternehmen, und zwar bald, bevor die Hornissen den Weg in ihren Schrank, ins Schlafzimmer und den Rest des Hauses fanden.
Im Bad tauchte sie einen Waschlappen in kaltes Wasser, inspizierte den Stich vorm Spiegel und kühlte ihn. Schon schwoll er an, und das einzige Mittel, das sie im Medizinschrank entdeckte, war eine jahrealte Arnikatinktur, mit der sie die betroffene Stelle einrieb. »Blödes Vieh!«, wetterte sie und hörte, wie Mrs. Killingsworths Hund zu bellen begann. Sie ging zur Vorderseite des Hauses, um nachzusehen, was da los war, und hörte Schritte auf ihrer Veranda. In der Erwartung, ein Klingeln oder Klopfen zu hören, lief sie die Treppe hinunter.
Das Telefon schrillte, und sie rief: »Augenblick noch« in Richtung Tür und eilte zunächst ins Arbeitszimmer.
Noch vor dem dritten Klingeln hatte sie den Hörer abgehoben. »Hallo?«, meldete sie sich. Stille. »Hallo?«
Wieder erfolgte keine Antwort. Doch da war jemand am anderen Ende der Leitung, dessen war sie sicher. Sie spürte es ganz deutlich.
»Wer ist da?«, fragte sie, Zorn und Angst in der Stimme. »Hallo?« Sie wartete dreißig Sekunden lang und sagte dann: »Ich kann Sie nicht hören.«
Handelte es sich bei den Lauten um Atemgeräusche, oder war es nur eine schlechte Verbindung? Sie wollte nicht näher darüber nachdenken. Ohne ein weiteres Wort legte sie auf und versuchte, sich davon zu überzeugen, dass der Anruf nichts zu bedeuten hatte.
Oder doch?
Sie überprüfte die Caller- ID .
Nummer unterdrückt.
Wie die Anrufe beim Sender.
Rede dir nichts ein. Es war eine schlechte Verbindung. Der Anrufer wird sich wieder melden.
Sie
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