Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
hatten sie das Gröbste hinter sich. Nuschel wies Pala ein trockenes Lager aus Laub und Moos zu, auf dem sie bald in tiefen Schlaf sank.
Am nächsten Morgen fühlte sie sich überraschend erfrischt. Das Nuschel war nirgends zu sehen, aber als sie laut seinen Namen rief, begannen die Zweige über ihr zu rascheln. Wenig später saß es auf ihrer Schulter und kitzelte mit seinem Pelz ihre Wange.
»Ich habe für dich eine Buche gefunden«, verkündete es stolz.
Pala legte die Stirn in Denkerfalten. »Muss mir das jetzt etwas sagen?«
»Nur, wenn du Hunger hast.«
Ihre Augen begannen zu leuchten. »Wo, sagtest du, steht diese Buche?«
Das Nuschel führte Pala zu einem Baum mit einer glatten, hellgrauen Rinde. Sie wusste, wie eine Buche aussah, aber eine solche hatte sie noch nie gesehen. Die Äste reichten fast bis auf den Waldboden herab. Daran hingen längliche, gezahnte Blätter, die leicht glänzten und – kleine Bücher.
»Was ist denn das?«, entfuhr es Pala.
»Bucheckern. Die mach’n satt. Im Bauch un’ im Kopf.«
Vorsichtig zupfte Pala eine der hellbraunen Samenkapseln ab. Sie sah tatsächlich aus wie ein winziges Büchlein, nicht größer als der Fingernagel ihres Daumens.
»Nimm’s in’en Mund«, forderte sie das Nuschel auf.
»Und wenn es giftig ist?«
»Musst dich nich sorg’n. Die Bucheckern an dies’m Baum wachsen nur von den Träum’n guter Dichter.«
»Und woher willst du das wissen?«
»Weil sie sonst schwarzbraun wären.«
»Natürlich.«
»Manchmal wacht’n Dichter am Morg’n auf und weiß, er hat was Wunderschönes geträumt. Wie gern würd’ er darüber ‘n Gedicht oder ‘n ganzes Buch schreiben, aber – puff! – die Erinnerung an’en Traum is’ wie weggeblasen.«
»Und dann wächst hier ein neues Büchlein?«
»Iss-es ruhig. Dadurch nimmst du die Kraft der Dichterworte in dir auf.«
Pala steckte das Büchlein in den Mund. »Mmmh! Schmeckt ja vorzüglich! Etwas süß und ein ganz klein wenig nussig.« Sie zupfte weitere Bucheckern ab und stopfte sie sich in den Mund. Ihre Augen verdrehten sich vor Verzückung, während sie genüsslich die Samen zermalmte. Erst jetzt merkte sie, wie groß ihr Hunger war. Sie schlug sich den Bauch mit Büchern voll. Unterdessen turnte Nuschel in den Ästen herum.
»So, und jetzt statten wir dem Kotzbrocken einen Besuch ab«, sagte Pala, als sie endlich satt war.
»Wem?«
»Zitto. Habe ich das nicht gesagt?«
»Du hast Kotzbrock’n gesagt. Die Bucheckern sind keine Wundermedizin. Musst trotzdem auf dein’n Wortschatz acht’n.«
Pala versprach, daran zu denken.
Fast beschwingt setzte sie ihren Weg fort. Es musste später Vormittag gewesen sein, als die beiden endlich den Waldrand erreichten. Vor ihnen stand auf einer luftigen Anhöhe Zittos Festung. Sie erschien Pala zum Greifen nah. Wenn sie kräftig voranschritt, konnte sie den Fuß des Festungsberges am frühen Nachmittag erreichen. Und dann? Wäre doch nur Giuseppe da! Sie könnte seinen Beistand jetzt dringender denn je gebrauchen.
Unterhalb des Schlosshügels lagen zahllose bunte Felder; türkisfarbene, sonnenblumengelbe, artischockengrüne, alle möglichen Töne. Aber Pala konnte kein einziges Ochsengespann, keinen Traktor und erst recht keinen Bauern sehen. Wer hatte diese Äcker angelegt?
»Was wächst dort?«, fragte sie das Nuschel.
»Munk’lrüb’n.«
»Du meinst, Runkelrüben.«
»Nö. Die Ackerknoll’n sprieß’n, wenn gemunkelt wird und man die Heimlichkeiten später abstreitet. In Zittos Garten gibt’s viele Munk’lrüb’n.«
Pala betrachtete argwöhnisch die braunen Feldfrüchte. Sie waren zerfurcht, ein- oder ausgebeult. Fast alle sahen aus wie Gesichter, allerdings ausnahmslos wie grimmige. Die grünen, faserigen Blätter wuchsen wie wilde Haarschöpfe aus diesen Rübenköpfen. »Munkelrüben«, murmelte sie. Sie musste an Tozzos Erklärungen zu den Flüstertüten denken. »Ich bekomme schon wieder Hunger. Kann man die Knollen essen?«
»Das würd’ ich lieber lass’n.«
»Habe ich mir schon gedacht.«
Kurze Zeit später schritten sie an einem üppig rot blühenden Feld entlang. »Was sind das für Blumen?«, fragte Pala das Nuschel.
»Sin’ alles Stilblüt’n.«
»Jetzt willst du dich aber über mich lustig machen, oder?«
»Nö.«
»Und warum heißen sie so?«
»Menschen red’n oft schludrig, ohne richtig nachzudenken. Dabei komm’n leicht komische Sprüche raus, mit’m ganz anderen Sinn, als sie eigentlich wollt’n.
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