Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
sagte der alte Geschichtenerzähler, nachdem er seine bebende Stimme einigermaßen in den Griff bekommen hatte. »Wir sollten uns unbedingt Zeit nehmen, um einiges zu besprechen. Ich bin ein dummer Wortspalter gewesen. Oder sagen wir, ein alter starrsinniger Tropf.«
Giuseppe lachte. »Das trifft es wohl besser. Aber wir drei hätten genauso reden und die Missverständnisse ausräumen müssen, anstatt uns nur schweigend von dir zurückzuziehen. Zitto hat mit uns allen sein Spiel getrieben und wir sind auf ihn reingefallen.«
»Ich glaube«, sagte Primo nachdenklich, »wir in Silencia haben nun gelernt, dem Wort die Ehre zu geben.«
Nach einer Reihe weiterer Umarmungen, in die jetzt auch Pala, Nina und ihre Eltern einbezogen wurden, begegneten sich die Blicke Silvestros und seiner Nichte. Er lächelte, und während sie in ihrer Befangenheit noch staunte, wie sehr sein Gesicht demjenigen Romeos glich, sagte er: »So sieht heute also die kleine Pala aus, die Giuseppe mit ihrem Geplapper ständig in den Ohren gelegen hat.«
Die Wortwahl des stattlichen Theaterdirektors war nun gar nicht mehr theatralisch, was Pala als sehr angenehm empfand. Sie schenkte ihm ihr hübschestes Lächeln und erwiderte: »Zuhören ist eben eine Tugend, die wie das Reden gelernt sein will, Onkelchen. Mit dir sind wir dann ja wohl acht.«
»Ist das schlimm?«
Pala lachte. »Nein, überhaupt nicht. Meiner Erfahrung nach wird die Geschichte dadurch nur noch besser.«
Von Zittos Burg war allein der alte Turm stehen geblieben, der Rest wurde ein Raub der Flammen. Ich erwähne das nur deshalb, weil sich in Silencia nach dem großen Brand hartnäckig das Gerücht hielt, auf dem Schlossberg gehe nicht alles mit rechten Dingen zu. Einige berichteten von fremdartigen kleinen Pelzwesen, die dort oben, vorwiegend zu nächtlicher Stunde, durch den Garten huschten. Andere wollten ein lautes Brummen vernommen haben, dessen Herkunft sie sich nicht erklären konnten. Bald war Silencia um eine Sage reicher.
Nachdem Zitto für das Amt des Bürgermeisters nicht mehr infrage kam, übernahm wieder der alte Stadtrat die Regierungsgeschäfte, allerdings mit neuen Vorsätzen. Alle überpinselten oder abgeschlagenen Wandsprüche wurden erneuert und die »Arche Zitto« musste sämtliche eingebunkerten Schriftstücke wieder herausrücken.
Die seltsame Verflüchtigung der Worte hatte zwar mit der Verkündung des Meister-Sonetts schlagartig ein Ende gefunden, aber die hierdurch der Stadt und den Menschen zugefügten Wunden heilten langsamer, manche nie. Immerhin wurde das Gespräch in Silenica als Tugend wieder entdeckt, Worte als kostbares Mittel zur Verständigung, das Dichten wie auch Fabulieren als Beflügelung von Geist und Schaffenskraft. Die Einwohner der Stadt sind heute hellhöriger gegenüber Wortklaubern jeglicher Art, auch solchen, die in der Maske angeblich tonangebender Zeitgenossen auftreten. Man lässt sich nicht mehr so schnell die Worte im Munde herumdrehen, denn wer dahin gehend wachsam ist und trotzdem offen bleibt für die guten Gedanken anderer, dessen eigenes Denken können die Zittos dieser Welt nicht mehr in ihre Gewalt bekommen. Oder sagen wir, nicht mehr so leicht.
Die Papperla-Papageien wurden übrigens nicht samt und sonders ausgemustert. Man lernte mit ihnen zu leben, weil sie sich bei sparsamem Gebrauch als durchaus nützliche Nachrichtenvögel erwiesen. Hier und da sorgen sie auch für vergnügliche Unterhaltung. Und wenn es ihren Besitzern doch einmal zu bunt wird, dann decken sie die Plappermäuler einfach zu und Ruhe ist im Karton. Lieber erzählt man sich dann von eigenen schönen Gefühlen, die man einmal empfunden hat, und erlebt dabei die erinnerte Begeisterung und Freude ein weiteres Mal. Diese Erfahrung, die besser ist als jedes Papperla-Papagei-Programm, machen Tag für Tag viele Menschen in Silencia, und das ist gut so.
Fast hätt ich’s vergessen, vielleicht interessiert ja noch jemand, wie es unserer Wortschöpferfamilie ergangen ist. Die Oratores – zu denen nun auch Pala gehört – erbten den Schlossberg und sämtliche Besitztümer des verflüchtigten Dichterfürsten. Burgturm und Garten stifteten sie der Stadt mit der Maßgabe einer gemeinnützigen Verwendung. Zittos Archiv »zum Zwecke der dauerhaften und absolut modersicheren Einlagerung« silencianischen Schrifttums wurde nach prachtvollem Umbau wieder seinem alten Zweck zugeführt; die Leitung des neuen alten Theaters übernahm Silvestro Oratore. Die
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