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Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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fließen. Wunderbare Tränen, wie sie nur das größte Glück hervorzubringen vermag. Sie bedeckte sein stoppeliges Gesicht über und über mit Küssen. »Nonno, ich freue mich so, du kannst wieder sprechen!«
    »Tja«, sagte der alte Erzähler, »und das habe ich dir zu verdanken. Wir müssen übrigens bei Gelegenheit über deinen Umgang sprechen, deine seltsamen Freunde…«
    »Tozzo, meinst du?« Pala lachte. »Wo ist er eigentlich?«
    »Fortgeschwirrt, kurz nachdem er mir das Meister-Sonett und deine Anweisungen überbracht hatte. Was für vollkommene Worte! Ich brauchte das Klinggedicht nur anzusehen und schon kehrte meine Sprache zurück. Den komischen kleinen Kerl zu verstehen war danach leicht. Oder sagen wir, zumindest eine bewältigbare Aufgabe.«
    »Ich werde Tozzo vermissen.«
    Gaspare verzog das Gesicht zu einem typischen Oratore-Grinsen. »Nicht traurig sein. Dafür hast du ja jetzt zwei Onkels und einen Großvater dazubekommen.«
    Pala streichelte Nonno Gaspares Stoppelwange, dann reichte sie Mutter und Vater die Hände. Zusammen mit Giuseppe und Nina bildeten sie einen Kreis. »Heute sind wir nur sechs«, sagte sie feierlich. »Doch eine gute Geschichte braucht mindestens sieben, um vollkommen zu sein. Macht euch keine Sorge, Mama und Papa, denn ich habe euch lieb und so wird es immer bleiben – aber nun möchte ich meinen wirklichen Vater kennen lernen.«
    »Dieser Wunsch kann erfüllt werden«, sagte Gaspare und löste sich aus der Runde, um hinter sich zu deuten. »Komm, Primo, du brauchst dich nicht mehr zu verstecken. Begrüße deine Tochter.«
    Pala starrte wie gebannt in die Lücke des Kreises. Erneut wurden ihre Knie weich. Ein hoch gewachsener, hagerer Mann mit vergrämtem Gesicht trat in das Rund. Seine Augen waren strahlend blau, sein gewelltes Haar musste einmal schwarz gewesen sein, doch zahlreiche weiße Strähnen ließen es nun aschgrau erscheinen. Die Menschen rings herum wurden mit einem Mal ganz still. Primo lächelte verlegen und als seine tiefe, wohltönende Stimme zu sprechen begann, klang es beinahe schüchtern.
    »Ich war ein Dummkopf, mein kleines Mädchen im Stich zu lassen. Selbst das Geld, das ich dem Kloster für dich ohne Absender geschickt hatte, kann mich von meiner Schuld nicht reinwaschen. Heute ist mir das klar geworden. Aber nachdem deine Mutter gestorben war…« Primo versagte die Stimme. Er schüttelte nur sein sorgengraues Haupt und ließ es beschämt hängen.
    Das war zu viel für Pala. Sie riss sich los, lief zu ihrem Vater und drückte ihn an sich. Donnernder Applaus brandete um sie herum auf. Wildfremde Menschen fielen sich in die Arme.
    »Papa«, schluchzte sie, »Papa, hör auf dich zu grämen. Du bist jetzt bei mir, nur das allein zählt.«
    Er schüttelte erneut den Kopf, diesmal ärgerlich. »Aber ich bin doch heute früh nicht wegen dir, sondern auf Weisung meiner Vorgesetzten nach Silencia gereist, um Zittos Stammsitz einen Besuch abzustatten und dem neu gewählten Bürgermeister die Ehrerbietung zu erweisen. Ich gebe zu, auch an dich gedacht zu haben, wie ich es immer tue, wenn ich in die Stadt komme, doch…«
    »Papa, du musst dir keine Vorwürfe mehr machen«, unterbrach Pala ihn. »Nicht irgendein Direktor hat dich herkommen lassen, sondern Zitto höchstpersönlich, jetzt ist mir das klar. Er wollte das Meister-Sonett zurückrufen und damit auch allen Oratores die Worte rauben, damit ihm niemand mehr seine Macht streitig machen konnte.«
    »Aber das kann nicht stimmen, Silvestro fehlt doch noch.«
    »Der Theaterdirektor?«
    »Ebender«, meldete sich unvermittelt eine fremde und dennoch für Pala auf unheimliche Weise vertraute Stimme zu Wort. Sie klang ziemlich schwülstig, aber nichtsdestominder wohlgemut, als sie hinzufügte: »Wenn so viele Oratores aufeinander hocken, dann dürfen Wir doch nicht fehlen. Wie es scheint, hat Unsere Nichte unser aller Geschick besser gekannt als wir drei Brüder zusammen.«
    Pala war in den Armen ihres Vaters erstarrt. Nicht er, auch kein anderer des Siebenerkreises hatte sich da auf so theatralische Weise Gehör verschafft. Die seltsame Wortwahl, der Tonfall – sie hätte schwören können, Zitto… nein, Romeo sei wieder auferstanden.
    »Silvestro!«, rief Gaspare und wechselte von seinem Erst- zum Zweitgeborenen, den er ungefähr zum selben Zeitpunkt wie Giuseppe erreichte. Ein neuer Umarmungsknoten bildete sich. Die Menge spendete Beifall.
    »Wie gut, endlich wieder meine drei Söhne bei mir zu haben«,

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