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Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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des Geschichtenerzählers, sondern ebenso auf den des Krankenpflegers Mario zu. Dessen Sägen hatte ein jähes Ende gefunden, als der letzte Nachtschwärmer aus der Villa des Schweigens entkommen war. Es wäre nicht abwegig, dachte Pala, wenn die schwirrenden Sauger über irgendein Gift verfügten, das sie bei Bedarf ausdünsten und damit ihre Opfer so lange im Schlaf fesseln könnten, bis sie restlos ausgesaugt waren. Auf jeden Fall betrat Mario die Bühne des Geschehens, kurz nachdem Palas Kammerjägerdrohung durch die Nacht gehallt war.
    Wegen der ausgefallenen Beleuchtung am Ort des dramatischen Geschehens musste Pala ihre Erlebnisse im Zimmer des Pflegers zu Protokoll geben. Nonno Gaspare war auch dabei. Er saß auf einem weißen Stuhl und hielt sich krankheitsbedingt stark zurück. Pala konnte nicht sitzen, weil die Schilderung des Vorfalls für sie zu einer harten Geduldsprobe geriet. Schuld daran war Mario. Er bedachte sie mit verständnislosen Blicken und unterbrach sie immer wieder mit, ihrer Meinung nach, ziemlich dummen wie auch überflüssigen Einwürfen.
    »Aber es gibt doch gar keine Flugsaurier mehr. Die sind längst ausgestorben.«
    Pala verdrehte die Augen zur Decke. »Flugsauger habe ich gesagt, nicht Saurier.«
    »Also Moskitos.«
    »Viel größer.«
    »Fledermäuse.«
    »Noch größer.«
    »Vampire?«
    »Wenn, dann sehen sie ganz anders aus.«
    »Anders als was?«
    »Na, Sie kennen doch diesen Grafen im Frack, der nachts seinen Durst am Hals schlafender Frauen stillt.«
    »Ehrlich gesagt, wurde er mir noch nicht vorgestellt. Ist er ein Ortsansässiger oder zugereist?«
    »Er wohnt in Transsilvanien.«
    »Ach so, na dann…«
    Pala konnte sich nicht erinnern, jemals einem so begriffsstutzigen Menschen wie Mario begegnet zu sein. »Ich weiß nicht, was das für Viecher waren, die da mit ihren Fingern an Nonno Gaspare rumgenuckelt haben, aber sehen Sie sich doch nur sein Gesicht an. Da sind frische Pünktchen.«
    »Du meinst Einstiche. Wenn er bei offenem Fenster schläft, darf er sich über Moskitostiche nicht beklagen. Wie hat er es übrigens aufbekommen? Das Schloss scheint mir unbeschädigt zu sein.«
    Pala hatte gelernt, gegenüber Erwachsenen höflich und respektvoll zu sein. Aber in diesem Moment überlegte sie, ob diese Regel auch für so junge Erwachsene wie Mario galt. Die ausgestreckten Arme eng am Körper, die Hände zu Fäusten geballt, presste sie zwischen den Zähnen hervor: »Das weiß ich doch nicht. Vielleicht besitzen die Dinger ja Nachschlüssel.«
    Mario lachte. »Deine Vampire, meinst du?«
    »Es sind nicht meine«, knurrte Pala.
    »Herr Oratore hat seinen derzeitigen Wohnsitz in Silencia und ist außerdem ein Mann. Damit scheidet er gleich doppelt als Tankstelle für deinen transsilvanischen Grafen aus.«
    »Sie glauben mir kein Wort, nicht wahr?«
    Mario zeigte sein bestes Pflegerlächeln. »Du hast seit gestern viel durchgemacht, Pala. Dein Freund leidet an dieser schrecklichen Krankheit. Deine Eltern durftest du nur durch eine Fensterscheibe sehen. Und dann noch dieser böse Traum…«
    »Es war kein Traum!«, kreischte Pala, wobei sie heftig mit dem Fuß aufstampfte.
    Der Geschichtenerzähler fuhr auf seinem Stuhl heftig zusammen und sah das Mädchen besorgt an.
    Pala seufzte. Es war zwecklos. Warum sollte sie länger ihre Zeit mit diesem Tropf vergeuden und dabei Nonno Gaspare unnötig beunruhigen? Marios Vorstellungsvermögen besaß ungefähr die Größe eines Stecknadelkopfes. Sie wünschte, Giuseppe mit seiner grenzenlosen Phantasie könnte ihr jetzt beistehen. Ihm wäre in dieser verzwickten Situation bestimmt etwas eingefallen…
    Mario traute seinen Ohren nicht, als seine eben noch so aufgeregte Patientin mit trauriger Miene und überraschend ruhig zu ihm sagte: »Vielleicht war es ja doch ein Traum, ein richtig monströser Albtraum sogar.«
     
     
    Anfangs breitete sich der Sprachschwund mit rasender Geschwindigkeit aus, wobei die rätselhafte Krankheit nicht bei jedem gleich verlief. Manche verloren nur einen mehr oder weniger großen Teil ihres Wortschatzes, nur wenige traf es so hart wie Gaspare Oratore. Bei wem immer sich die seltsame Verflüchtigung der Worte auch nur andeutete, der wurde kurzerhand unter Quarantäne gestellt.
    Besonders heimtückisch war jene plötzlich auftretende Zersetzung der Sprache, die der Volksmund »Silbenschwund« nannte, während die Wissenschaftler vom »Ausfall der Morpheme« redeten. Die davon Befallenen gaben seltsam

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