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Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Er war groß wie ein Hirtenhund. Und er schien sie zu beobachten.
    Sie holte tief Luft, um ihre Angst in den Griff zu bekommen. Mehr noch als um sich selbst sorgte sie sich um Nonno Gaspare. Was hatten diese Viecher mit ihren Saugnäpfen an seinem Kopf gesucht? Waren etwa sie die Ursache für die gerötete Haut in seinem Gesicht? Mit Schaudern erinnerte sich Pala des Verses vom Skriptorium.
     
    Was du vermisst, wird and’re Geister laben,
    sie tragen fort, was passt auf ihre Hauer,
    und mästen sich gleich fetten Küchenschaben.
     
    »Weg mit dir, du monströser Brummer!«, brüllte Pala mit einem Mal. Sie sprang auf und rannte mit wirbelnden Armen auf den Nachtschwärmer zu. Den schien die unvermittelte Lebhaftigkeit der kreischenden Furie zu überraschen. Mit einem lauten Plumps fiel er von der Zimmerdecke auf den Boden. Er quiekte, wohl ein Ausdruck des Schmerzes. Ehe die – sich nun etwas zögerlicher nähernde – Angreiferin ihn erreichen konnte, hatte er sich wieder aufgerappelt und erhob sich, laut brummend, in die Luft. Weil der Weg zum Fenster ihm durch die Furie versperrt war, flüchtete der Nachtschwärmer in Richtung Innenhof davon. Im Taumelflug wie eine betrunkene Riesenhummel entschwand er durch die Tür.
    »Lasst euch nie wieder hier blicken!«, schrie Pala ihm hinterher und schüttelte die Faust. »Sonst rufe ich den Kammerjäger.«
    Kaum hatte sich ihr Atem etwas beruhigt, hörte sie hinter sich ein neues Geräusch. Pala stöhnte. Lange würde sie diese Nachtschwärmer mit ihrem Geschrei wohl nicht mehr beeindrucken können. Sie wappnete sich für ein neues Gefecht, wandte sich um und sah Nonno Gaspare in einem langen weißen Nachthemd am offenen Fenster stehen.
    Der Geschichtenerzähler schaute zum Mond hinauf und atmete tief die laue Nachtluft ein. Als Pala zu ihm trat, erblickte sie sein Spiegelbild in der Fensterscheibe, einen halb durchsichtigen Schemen, der ihren Atem stocken ließ. Für einen Augenblick glaubte sie, einen großen Bären mit einem Maulkorb zu erkennen, der einen Ring in seiner so feinfühligen, so schmerzempfindlichen Nase trug. Verblüfft blinzelte sie und als sie wieder hinsah, war der Tanzbär verschwunden und nur die hagere Gestalt des Alten spiegelte sich im Glas.
    Nonno Gaspares feingliedrige Hand legte sich schwer auf Palas Schulter. Die zuckte erschrocken zusammen und blickte verstört zu ihm auf. Er lächelte sie an und bewegte den von ihr eben noch so verwirrt angestarrten Fensterflügel hin und her. Wie hast du es geschafft, die Verriegelung aufzubekommen?, sollte diese Geste wohl bedeuten.
    Pala hob die Schultern und brachte ebenfalls ein, wenn auch etwas unglückliches, Lächeln zustande. Vor weniger als einer Stunde hatte sie eine niedrige Mauer zu einer unüberwindbar hohen werden sehen. Warum sollten nicht auch die unheimlichen Nachtschwärmer Verschlossenes in Geöffnetes verwandeln können? Vielleicht brauchten sie dazu lediglich ihre spindeldürren Finger, die wohl durch so manche Ritzen kriechen und… Ach, Pala konnte sich das geöffnete Fenster auch nicht erklären. Bei genauer Betrachtung ging es ihr wie ihrem Freund: Sie wussten beide nicht, was in dieser Nacht geschehen war.
    Nonno Gaspare wirkte erschöpft, aber wenigstens schien es ihm nicht schlechter zu gehen als vor dem Einschlafen. Insofern mochte das Schweben über Abgründen und der Kampf gegen die Nachtschwärmer nicht ganz umsonst gewesen sein, dachte Pala. Ohne Hoffnung, von ihrem Freund verstanden zu werden, tätschelte sie ihm den Arm und sagte: »Du hast so tief geschlafen und nun bist du doch wach geworden. Tut mir Leid, Nonno. Aber du weißt ja: Sind Wonnen süß, ist kurz meist ihre Dauer.«

 
     
     
Sind Wonnen süß, ist kurz meist ihre Dauer,
so wird’s ergehn, wer will an Worten sparen.
Der Missverstand’ne kann nicht Frieden wahren,
wenn klärend’ Wort legt an das Tuch der Trauer.
 
Der Wüterich fühlt sich im Magen flauer,
derweil er kreischend rauft sich an den Haaren,
je länger drischt er ein auf Töpferwaren,
die bargen lang, was Menschen machte schlauer.
 
Des Hitzkopfs Zorn schon Worte könnten kühlen,
Gespräche seinen Horizont erweitern, doch so muss,
wer nicht hören will, bald fühlen.
 
Von Lust gelockt vertraut er blinden Leitern,
muss immerfort in fremden Kissen wühlen,
sogar von Gift lässt sich der Tor erheitern.

 
    Sind Wonnen süß, ist kurz meist ihre Dauer. Was da im Schlussvers des Klostergedichtes stand, traf nicht nur auf den Nachtschlaf

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