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Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Richtung Kirche. Höchste Zeit, sich aus dem Staub zu machen, denn sollten diesseits der Mauer Wachleute auf Rundgang sein, dann hatten sie das Geschrei von eben bestimmt gehört. Bei der Pforte des Kreuzganges verharrte der Schatten des Mädchens noch ein letztes Mal. »Zitto muss mit dem Ding irgendetwas angestellt haben«, flüsterte sie erneut. »Etwas Unheimliches.«
     
     
    Ungesehen gelangte Pala zur Villa des Schweigens zurück. Sie kletterte außen am Gebäude empor, stieg durch das Fenster, zog es hinter sich zu und machte sich auf den Weg in ihren Schlafsaal. Leise hallte das sägende Schnarchen des Krankenpflegers durch den Innenhof. Von Nonno Gaspare war nichts zu hören.
    Sie fragte sich, ob der alte Geschichtenerzähler im Schlaf wohl ebenso stumm war wie im Wachen. Es konnte nicht schaden, noch einen Blick in sein Zimmer zu werfen. Auf Zehenspitzen näherte sie sich seiner Tür und lauschte. Ein seltsam dunkles Brummen drang aus dem Saal. Sollte es Motorroller geben, die unter Wasser nicht ausgingen, dann mochten sie am Grund eines tiefen Brunnens ungefähr genauso klingen, aber ein Mensch…?
    Pala glaubte das Geräusch zu kennen und hoffte zugleich, sie würde sich täuschen. Schnell und doch behutsam drückte sie die Klinke hinunter. Es quietschte leise. Mit äußerster Vorsicht und nur so weit wie nötig öffnete das Mädchen die Tür, um den Kopf durch den Spalt zu stecken. Als es ebendieses tat, traf es der Schlag, nicht buchstäblich, sondern auf eine sehr viel schrecklichere Weise.
    Nonno Gaspare war nicht allein im Zimmer. Er selbst schien gar nicht zu merken, in welch unheimlicher Gesellschaft er sich da befand, weil er offenbar tief und fest schlief. Über ihm hingen drei dieser – Wesen in der Luft. Pala erkannte die Nachtschwärmer sofort wieder. Das schwirrende Rieseninsekt aus dem Kloster war also doch keine Einbildung gewesen. Mehrere spindeldürre, an den Enden merkwürdig verdickte Finger hefteten sich gerade wie mit kleinen Saugnäpfen auf des Schläfers Gesicht, als wollten die Nachtschwärmer ihm etwas abzapfen. Die Angst um ihren Freund packte Pala nun wie mit eiserner Faust. Sie riss vollends die Tür auf und stieß einen gellenden Schrei aus.
    Sofort zogen die Nachtschwärmer ihre Saugfinger ein. Anstatt jedoch die Flucht zu ergreifen, blieben sie unschlüssig über ihrer Beute hängen, gehalten von brummenden Flügeln, die sich nur als nebelhafte Schemen über ihren plumpen, dicht behaarten Körpern ausmachen ließen. Übergroße Augen wandten sich Pala zu. Ein oder zwei Herzschläge lang glotzten das Mädchen und die drei Nachtschwärmer sich an. Einer der flirrenden Flieger war dunkelbraun, der zweite schmutzig blau und der dritte schlammgrün.
    Endlich hatte Palas tastende Hand den Schalter neben der Tür gefunden. Sie knipste das Licht an und schrie: »Haut ab, ihr…!«- in Ermangelung eines passenden Namens blieb ihr die Drohung im Halse stecken.
    Den Angerufenen schien dennoch aufzugehen, was für eine gefährliche Gegnerin dieses zornige Mädchen war. Das Brummen ihrer Flügel schwoll zu lautem Schnarren an, wobei sie über ihrem Opfer bis zur hohen Zimmerdecke aufstiegen und dann durch das offen stehende mittlere Rundbogenfenster davonschwirrten.
    Pala setzte ihnen bis zum Fenstersims nach und verfolgte sie von dort aus mit grimmigen Blicken. Die schwarzen Leiber der Brummer blieben wie Scherenschnitte noch eine Weile vor der silbernen Scheibe des Mondes hängen und wurden dabei immer kleiner. Bald waren sie ganz verschwunden.
    Peng!
    Das Geräusch der zerplatzenden Glühlampe ließ Pala erschrocken zusammenfahren. Schlagartig kehrte das Zwielicht der Vollmondnacht zurück. Mit eingezogenem Kopf ging das Mädchen in die Hocke und drehte sich langsam zum Zimmer um. Warum war die Lampe ausgerechnet jetzt kaputtgegangen? Konnte das ein Zufall sein?
    Nonno Gaspare bewegte sich zwar unruhig in seinem Bett, aber er schien immer noch zu schlafen. Palas Blick schweifte durch den finsteren Krankensaal – bis sie es entdeckte. An der Wand gegenüber bildete das Mondlicht drei helle Abbilder der Fenster. Und im linken baumelte kopfunter der Schattenriss eines Nachtschwärmers.
    Pala stockte der Atem. Was sollte sie jetzt tun? Unerklärlicherweise jagte ihr dieser Einzelgänger, der da irgendwo mit den Füßen an der Zimmerdecke hängen musste, eine größere Angst ein als seine drei flüchtigen Kumpane. Ihre Augen tasteten die dunkle Decke ab. Schnell hatte sie ihn entdeckt.

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