Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
blickte scheel auf das fremde Mädchen.
»Ich bin eine Schülerin von Caterina Knüttelvers… ich meine, Frau Animato. Sie…«
»Du nennst sie Knüttelvers?«
Pala sah die Nachbarin mit offenem Mund an. Jetzt hatte sie es sich mit der misstrauischen Alten vermutlich ganz verscherzt. Doch mit einem Mal wich der verbissene Ausdruck von deren Gesicht und sie sagte kopfschüttelnd: »Die Caterina ist heute Morgen wie der Wind aus dem Haus gelaufen und seitdem nicht mehr zurückgekommen.«
»Sind Sie sicher?«
»Ganz sicher. Habe bis eben am Fenster gesessen und meinem Papagei zugehört. Hätte mir auffallen müssen, wenn die Caterina schon so früh aus der Schule heimgekommen wäre.«
»Danke«, sagte Pala und schlurfte niedergeschlagen davon.
Wenig später klopfte sie an die Tür der Villa des Schweigens. Das alte Hospitalgebäude war längst zu klein geworden, um all die Sprachschwindsüchtigen aufzunehmen. Nur die Neuzugänge wurden hier noch eingeliefert. Sie mussten die üblichen Untersuchungen erdulden und wurden alsbald in den benachbarten Neubau verlegt, den der Volksmund die »Stille Kiste« nannte. Aus Rücksicht auf Nonno Gaspares Alter und wegen seines besonderen Wertes als wissenschaftliches Forschungsobjekt durfte er weiterhin in der alten Villa wohnen. Auch Mario arbeitete noch hier.
»Na, Pala? Heute schon so früh da?«, begrüßte der lockenköpfige Pfleger seine regelmäßigste Besucherin. Er saß in seiner Stube neben der Eingangshalle über eine Liste gebeugt und hatte bei Palas Eintreten kaum aufgesehen. Neuerdings pflegte er sehr beschäftigt zu tun, fühlte er sich doch verantwortlich für den reibungslosen Ablauf in einer bis unters Dach mit Kranken voll gestopften Abteilung. Bevor ihn sein Lesestoff ganz übermannen konnte, entrang er sich noch den Hinweis: »Der alte Oratore sitzt im Atrium und starrt auf den Springbrunnen.«
»Ist hier in der letzten Stunde eine Lehrerin eingeliefert worden? Sie heißt Caterina Knüttel-, ich meine, Animato. Caterina Animato. Knüttelvers ist nur…«
»Nicht eingeliefert«, fiel Mario ihr ungeduldig ins Wort. »Ist selbst gekommen. Liegt jetzt im Saal ›Winterstille‹.«
Pala stutzte. »Aber das muss ein Irrtum sein. Dahin kommen doch nur die Frauen mit Vollwortausfall…«
»Irrtum ausgeschlossen«, unterbrach Mario die Besucherin. »Sie kriegt keine Silbe mehr raus, nicht eine.«
Pala rannte durch den Vorraum, einmal mehr unter einem Wandgedicht entlang, das sie zu verspotten schien: Gefangenschaft kann brechen, wessen Ohr sich dem Weisen öffnet. Was für ein Hohn! Sie hatte ja auf ihre Lehrerin, eine in Palas Augen ausgesprochen weise Person, hören wollen, aber jemand war ihr offenbar zuvorgekommen.
Nonno Gaspare sah seiner Freundin von der Bank im Innenhof verwundert nach, als sie mit fliegendem Kleid an ihm vorüber rannte und gleich darauf in einem Krankenzimmer verschwand, dessen Namen er nicht lesen konnte. Es hieß »Winterstille«.
Caterina Knüttelvers saß auf dem Bett ganz links, ihre Hände im Schoß. Noch unterschied sie sich von den anderen Patientinnen in ihren Krankenhauseinheitsnachthemden. Noch trug sie wie am Morgen das graue Kostüm aus Wildseide, das ihr früher immer die bewundernden Worte von Kollegen eingetragen hatte. Von nun an würde sie an derlei Schmeicheleien keine Freude mehr finden. Sie war eine gebrochene Frau. Kein einziges Wort konnte sie mehr reden und nicht eines verstehen. Als sie Pala bemerkte, fielen sich beide in die Arme und begannen zu weinen.
Pala litt sehr unter der Verzweiflung. Wenn sie wenigstens jemandem von ihren Gefühlen erzählen könnte! Die Lehrerin schien Ähnliches zu empfinden und Nonno Gaspare spürte wohl, wie übel es um den Seelenzustand seiner jungen Freundin stand – aber verstehen konnten beide sie nicht.
Als Pala an diesem Nachmittag nach Hause stapfte, kochte in ihr eine große Wut. Ja, wer an Worten spart, dem wird es tatsächlich schlecht ergehen, aber manchmal wurde einem diese unnatürliche Sparsamkeit auch aufgezwungen. Die meisten Menschen in der Stadt schienen sich dieses Umstands nicht einmal bewusst zu sein. Pala wollte mehr denn je die wahren Absichten Zittos herausfinden. Er versprach jedem ein leichteres Leben, aber könnte der Genuss, nach dem alle so rastlos strebten, in Wirklichkeit vergiftet sein?
Einige Zeit lang war sie zu niedergeschlagen, um den durch die Verstummung der Caterina Knüttelvers fallen gelassenen Faden wieder aufzunehmen.
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