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Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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dämpfen – wem es die Sprache verschlagen hatte, der war auch stumm geblieben. Der großflächige Einsatz von Insektenvertilgungsmitteln schien Wirkung zu zeigen, die Neuerkrankungen gingen täglich zurück. Was wollte man mehr?
    Mit ungebrochenem Entdeckergeist richteten die Gelehrten ihre Mikroskope auf das abgezapfte Blut infizierter Patienten und benahmen sich dabei wie mit ihren Fernrohren am Himmel herumstochernde Astronomen auf der Suche nach neuen Sternen. Sobald man das Virus aufgestöbert habe, verkündeten die Papperla-Papageien, brauche nur noch ein passender Impfstoff gegen die Wortarmut ausgebrütet zu werden. Alles klang so einfach!
    Vielleicht würde sich ja tatsächlich bald eine Menge ändern, dachte Pala, freilich aus ganz anderem Grund. Endlich war die letzte Unterrichtsstunde angebrochen. Nur noch die Nachschrift musste bewältigt werden, dann würde Caterina Knüttelvers das große Geheimnis lüften. Als die Lehrerin jedoch mit dem Diktat begann, erlebte Pala eine böse Überraschung.
    Es war ein klarer Fall von Silbenschwund. Auf der Schultreppe, wie Pala sich noch sehr genau erinnern konnte, hatte die Lehrerin gesagt, ihre Entdeckung sei ungeheuerlich! Aber dann kam jener seltsame und wie Pala jetzt empfand, unheimliche Aussetzer. Danach sagte die Lehrerin, ihre anfängliche Meinung über Silencias Namen sei »Sinn«.
    Aber sie hatte Unsinn gemeint.
    Jetzt erst, während sie diktierte, gelangte Pala zu dieser furchtbaren Einsicht, denn daran haperte es bei Caterina Knüttelvers: an den Buchstabenverbindungen »un« wie auch »unter«. Dementsprechend entstellt klang ihr Text.
    »Für ein friedliches Zusammenleben ist der regelmäßige Gedankenaustausch -verzichtbar«, diktierte sie. »Ein -voreingenommenes, -verfälschtes Gespräch erstickt das -beha-gen, -bindet Missverständnisse, ja, es macht -heimliche Machenschaften so gut wie immer -möglich. Streit wie auch Hader sind für jeden Menschen -nötig. Ein Wort zur rechten Zeit kann großes -heil abwenden. Wer wünscht sich das nicht?…«
    Anfangs erhob sich nur leises Gekicher. Caterina Knüttelvers selbst hatte die Besorgnis erregende Lückenhaftigkeit ihrer Aussprache noch gar nicht bemerkt. Aber als die Stimme der Lehrerin dann unter dem schallenden Lachen der Schüler begraben wurde, wurde ihr der Makel schmerzlich bewusst. Sie schimpfte nicht einmal, sondern begann zu weinen.
    Bestürzung und Scham standen ihr wie mit roter Farbe ins Gesicht geschrieben. Pala erinnerte das Aussehen der Lehrerin unheilvoll an Nonno Gaspares Sonnenbrandmaske.
    Die Klassenkameraden johlten vor Vergnügen. Sie zeigten weder Mitleid für Caterina Knüttelvers noch Bedauern über ihr Unglück. Für die lärmende Meute schien das verstümmelte Diktat ein herrliches Vergnügen zu sein und als Frau Animato fluchtartig aus dem Zimmer stürmte, krakeelten sie nur umso mehr.
     
     
    Pala rannte auf den Pausenhof hinaus, aber sie holte Caterina Knüttelvers nicht mehr ein. Die grölende Menge der Halbwüchsigen fegte wie ein Sturm an der zutiefst erschütterten Mitschülerin vorbei. Ja, dachte Pala, während ihr Blick auf dem Wandgedicht über der Treppe verharrte, ja, es stimmt.
     
    Sind Wonnen süß, ist kurz meist ihre Dauer,
    so wird’s ergehn, wer will an Worten sparen.
    Der Missverstandne kann nicht Frieden wahren,
    wenn klärend’ Wort legt an das Tuch der Trauer.
     
    Der Wüterich fühlt sich im Magen flauer,
    derweil er kreischend rauft sich an den Haaren.
    Je länger drischt er ein auf Töpferwaren,
    die bargen lang, was Menschen machte schlauer.
     
    Des Hitzkopfs Zorn schon Worte könnten kühlen,
    Gespräche seinen Horizont erweitern,
    doch so muss, wer nicht hören will, bald fühlen.
     
    Von Lust gelockt vertraut er blinden Leitern,
    muss immerfort in fremden Kissen wühlen,
    sogar von Gift lässt sich der Tor erheitern.
     
    Wer an Worten spart, dem wird’s schlecht ergehen, grübelte Pala, um gleich darauf in Zorn auszubrechen. »Aber diese Hitzköpfe merken es nicht einmal!«, fauchte sie. »Ihren Spaß wollen sie haben und sonst nichts.« Die von Lust gelockten Toren, die sich sogar vom Gift erheitern lassen, widerten sie an. Sie riss sich von den Versen los und lief der Lehrerin hinterher.
    Als Pala die Wohnung von Caterina Knüttelvers erreichte und anhaltend schellte, öffnete niemand die Tür. Eine weißhaarige Nachbarin kam die Treppe herunter.
    »Haben Sie Frau Animato gesehen?«, fragte Pala.
    »Warum?«, knurrte die Nachbarin und

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