Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
schon ein Jahr her, seit du das letzte Mal um meine Hand angehalten hast.«
»Damals war ich ein Kind. Jetzt bin ich ein Mann.«
»Nein, damals warst du ein richtiger Junge. Jetzt bist du ein Hornochse.«
»Das war aber jetzt eine Beleidigung, oder?«
»Merkst du eigentlich, wie vernagelt du bist, Pasquale? Beleidige dich doch selbst.« Pala schlug einen Haken und ließ ihren Freund einfach stehen. Lieber wollte sie einen weiteren Schulweg gehen, als sich noch länger der Gegenwart dieses maulfaulen Mondkalbs auszusetzen.
Später, am frühen Nachmittag, als die Schule endlich zu Ende war, taten ihr die Zornesworte vom Morgen schon wieder Leid. Pasquale hatte im Unterricht zum ersten Mal seit sechs Jahren nicht neben ihr gesessen. Ihre Entschuldigung aus der zweiten Schulstunde schien er überhört zu haben, die aus der dritten beantwortete er nur mit einem leeren Blick. Als die beiden sich auf der Treppe vor dem Schulhaus trennten, hatte Pala ihn in der Glastür dahinter als großen zottigen Hund mit einem Maulkorb gesehen. Hierauf war sie verschreckt davongelaufen.
Leise vor sich hin schluchzend, hastete sie zum Platz der Dichter, der auf einhelligen Vorschlag des Stadtrates demnächst in »Zittoplatz« umbenannt werden sollte. Sie hatte keine Augen für die wenigen Menschen auf ihrem Weg, die ihr neugierig nachblickten, und schon gar nicht für die kleinen Eidechsen, die scheu vor ihr die Flucht ergriffen. Pala wollte mit jemandem reden, nein, sie musste es. Vielleicht konnte sie ihrer Mutter ja in der Mittagspause einige Minuten abringen. Die arbeitete jetzt ganztags, eine »glückliche Fügung«, wie sie vor einigen Wochen ihrer Familie unterbreitet hatte.
Pala lief eine breite Schneise hinab, die kürzlich für den rasch zunehmenden Autoverkehr durch die alten Häuser geschlagen worden war. Die Mittagssonne ließ den unbeschatteten Gehweg wie einen Steinofen erglühen. Als das Mädchen auf den großen Marktplatz hinaustrat, blieb es wie angewurzelt stehen. Neben dem Uhrenturm stand ein Lastwagen mit einer ausgefahrenen Arbeitsplattform. Darauf gingen in luftiger Höhe zwei behelmte Männer einer in Palas Augen ruchlosen Beschäftigung nach: Sie entfernten gerade mit Hammer und Meißel die letzten Buchstaben des alten Wandgedichts vom hohen Giebel des Rathauses. Entsetzt starrte das Mädchen auf die hellen Flecken, die das jahrhundertealte Sonett noch erkennen ließen.
Sogar von Gift lässt sich der Tor erheitern,
dem Reden Silber ist, doch Gold das Schweigen,
kann buckelkrumm nicht rechts, nicht links sich neigen
und taumelt nur gleich trunkenen Hochzeitern.
Gerüchte sind das Erz von Bergarbeitern,
die aus dem Schacht des Wankelmuts aufsteigen.
Bequemlichkeit die Tugend ist der Feigen,
sie zählen zu den schlimmsten Spottverbreitern.
Der Feind fängt listenreich zunächst die Schwachen,
die wollen ihre Liebe nicht erweitern,
dafür ihr Herz zur Mördergrube machen.
Verständnis fehlt bei unbedachten Streitern,
die lügen, höhnen und wie irre lachen
ein Wort im Zorn reißt Wunden, die schlimm eitern.
Pala musste sich dazu zwingen, den Blick von dem gemeuchelten Wandgedicht abzuwenden. Voll unbändiger Wut stapfte sie in Zittos Verwaltungsgebäude.
»Hast du gesehen, was draußen passiert?«, begrüßte sie ihre Mutter, die auf Anraten der Empfangsdame zu dem aufgeregten Mädchen bei den Fahrstühlen geeilt war.
»Sie nehmen das Gedicht ab, na und?«
Pala schüttelte ungläubig den Kopf. »Aber du musst doch erkennen, was dahinter steckt, Mama, wer dahinter steckt. Schau selbst aus dem Fenster und lies in den Schatten der abgeschlagenen Buchstaben: ›Der Feind fängt listenreich zunächst die Schwachen, die wollen ihre Liebe nicht erweitern, dafür ihr Herz zur Mördergrube machen.‹ Es ist Zitto, von dem da die Rede ist. Er will uns alle einfangen…«
»Still!«, zischte die Mutter und sah sich ängstlich um. »Es könnte mich meine Stellung kosten, wenn du hier weiter solche Lügen über den größten Wohltäter der Stadt verbreitest. Was willst du überhaupt um diese Zeit hier? Ich habe erst in drei Stunden Feierabend, das weißt du doch.«
»Wenn deinem Abteilungsleiter nicht wieder ein paar gute Gründe für Überstunden einfallen – natürlich weiß ich das. Aber ich dachte, wir könnten…«
»Die Mittagspause miteinander verbringen?« Mutter schüttelte den Kopf und zwang sich ein Lächeln ab. »Das geht heute nicht. Zitto arbeitet an einem neuen
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