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Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Hinzu kam eine in dieser Heftigkeit noch nie empfundene Angst, womöglich selbst das nächste Opfer der Wortfresser zu werden. Die Lehrerin hatte ja etwas im Keller ihrer Urgroßmutter ausgegraben – und war zum Schweigen gebracht worden. Für Pala gab es keinen Zweifel an diesem Zusammenhang. Jemand musste herausgefunden haben, wie dicht man ihm auf den Fersen war, und sie ahnte längst, wer dieser Jemand war.
    Während Zittos Feste zusehends schneller wuchs – obwohl nie ein Bauarbeiter auf dem Schlossberg auszumachen war –, wurde es in der Stadt immer stiller. Die alten Tugenden der Freundschaft und Verständigung versanken in einem lautlosen Sumpf aus Neid, Habgier und Zwietracht. Manche Menschen nahmen mehr und mehr das Wesen von Tieren an. Für ein anregendes Gespräch oder die Zeilen eines großen Poeten empfanden sie so viel wie ein Hund für ein Konversationslexikon. Wenn Pala an die unheimlichen Spiegelbilder dachte, die sie manchmal von den Menschen in Silencia sah, dann grauste ihr vor dem Gedanken, eines Morgens in einer Stadt zu erwachen, die nur noch von Wölfen, Bären und Affen bevölkert wurde.
    Warum, so fragte sie sich, hat mich diese seltsame Verflüchtigung der Worte noch nicht befallen? Weshalb bemerken die anderen so wenig von den zerstörerischen Veränderungen? Oder wollen sie gar nichts von Zittos berauschender Droge wissen, frei nach dem Leitspruch: Sogar von Gift lässt sich der Tor erheitern?

 
     
 
Sogar von Gift lässt sich der Tor erheitern,
dem Reden Silber ist, doch Gold das Schweigen,
kann buckelkrumm nicht rechts, nicht links sich neigen
und taumelt nur gleich trunkenen Hochzeitern.
 
Gerüchte sind das Erz von Bergarbeitern,
die aus dem Schacht des Wankelmuts aufsteigen.
Bequemlichkeit die Tugend ist der Feigen,
sie zählen zu den schlimmsten Spottverbreitern.
 
Der Feind fängt listenreich zunächst die Schwachen,
die wollen ihre Liebe nicht erweitern,
dafür ihr Herz zur Mördergrube machen.
 
Verständnis fehlt bei unbedachten Streitern,
die lügen, höhnen und wie irre lachen
ein Wort im Zorn reißt Wunden, die schlimm eitern.

 
     
    Sogar von Gift lässt sich der Tor erheitern, wenn’s ihm nur süß den Gaumen kitzelt.« Pala schnaubte verächtlich.
    »Kapier ich nicht«, brummte Pasquale. Er trottete wie ein Bernhardiner neben seiner Freundin her. Den Beutel mit den Schulheften hatte er lässig über die Schulter geschwungen.
    »Aber dir muss doch auch die Veränderung an den Menschen aufgefallen sein. Sie reden kaum noch miteinander und wenn, dann streiten sie, weil sie verlernt haben, wie man über Probleme spricht, nach einer Einigung sucht und sich wieder verträgt. Jeder denkt nur noch an sich, seine Karriere, sein Geld, sein Vergnügen in der Freizeit, die Zitto ihnen zubemisst. Ist dir etwa auch entgangen, was der Papperla gestern gesagt hat?«
    »Meinst wohl, als das Ungeheuer aus dem Blutsumpf aufstieg und Feger der Rächer von Barmundt ihm in die fünf Augen blickte?«
    »Hast du wieder bis in die Puppen vor dem blöden Papagei gesessen? Ich rede von den Neuigkeiten, die das Vieh zur Abendessenszeit ausgespuckt hat. Da hieß es, in alten Werten habe man neuerdings viele Gefahren entdeckt: für die Jugend, für den ungehemmten Fortschritt und für die Lebenslust. Deshalb habe Zittos ›Kommission für aufgeräumtes Denken‹ angeregt, die meisten an öffentlichen Bauwerken verewigten Tugenden entfernen zu lassen.«
    »Hm, hab gestern sogar schon ein paar überpinselte Verse gesehen. Na, mir soll’s recht sein. Um die alten Sprüche ist’s nicht schade.«
    »Das musst ausgerechnet du sagen, der Sohn eines Gebrauchsdichters!«
    Pasquale stierte Pala von der Seite her an, als wolle er sie verspeisen. »War das jetzt ‘ne Beleidigung?«
    »Du verstehst auch gar nichts, was? Von wem stammen die Verse an den Häusern und Mauern denn? Oft von Gebrauchsdichtern wie deinem Vater. Wenn man deren Weisheiten jetzt für jugendgefährdend hält, was meinst du, wird euch dann blühen?«
    Pasquale zuckte nur die schweren Schultern.
    »Man wird deinem Vater das Mundwerk verbieten. Dann müsst ihr betteln gehen.«
    »Habe meinem Alten sowieso schon geraten, in Zittos Fabrik zu gehen. Da verdient er mehr als mit Sprücheklopfen.«
    »Du solltest dich schämen, so über deines Vaters Arbeit zu reden, Pasquale. Früher hast du selbst mit größter Hingabe, wie du es sagst, Sprüche geklopft. Weißt du nicht mehr – dein gedichteter Heiratsantrag? Ich glaube, es ist

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