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Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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gänzlich darüber ausschwiegen?
    Manchmal konnte man die seltsame Verflüchtigung der Worte sogar mit den Augen wahrnehmen, wie an jenem regnerischen Nachmittag, als Pala mit ihrer Mutter und Nina die Bank von Silencia besuchte. An der Fassade stand in gläsernen Buchstaben ein für die Stadt der Dichter und Denker typischer Spruch:
     
    Spare Geld, doch nicht an Worten
     
    Gerade als die drei das Gebäude wieder verlassen wollten, ertönte draußen ein ohrenbetäubendes Klirren. Tausende von Glassplittern stoben über das Pflaster. Nina fing an zu weinen. Nachdem Ruhe eingekehrt war, wagten sich die drei endlich ins Freie hinaus, wo schon etliche andere Passanten standen und voller Unverständnis zu dem verstümmelten Schriftzug über dem Eingang emporstarrten:
     
    Spare doch an Worten
     
    »Das gibt’s doch nicht!«, entfuhr es der Mutter.
    Pala trat aus der Gruppe der Schaulustigen heraus und sah zu der bald fertig gestellten Zitadelle hinauf. »Jetzt hast du dich verraten.« Ihre Stimme war nur ein Flüstern. Als sie sich wieder der Bank zuwandte, stockte ihr der Atem. Aus dem Spiegelbild im großen Schaufenster starrte sie eine wilde Meute an: Wölfe, Löwen, Hyänen, Schlangen, Geier…
    Auf der breiten Freitreppe der Schule, gleich unter dem großen Wandgedicht, herrschte kurz vor Unterrichtsbeginn immer ein wildes Durcheinander. Pala merkte gar nicht, wie sich von hinten jemand an sie heranschlich und ihren Arm packte. Erschrocken zuckte sie zusammen.
    »Ihr schreibt heute ein Diktat«, zischte ihr eine Stimme ins Ohr. Sie gehörte Caterina Knüttelvers. Aus ihrem Mund klangen die Worte wie der Aufruf zu einer Verschwörung. Die Lehrerin wirkte erhitzt, ihr Gesicht war beinahe so rot wie das Seidentuch in ihrer grauen Kostümjacke.
    »Und was ist mit der Formenlehre der Klinggedichte? Sie wollten uns heute doch erklären, was ein Sonettenkranz ist«, antwortete Pala verdutzt. Wortkarge Schüler schoben und drängelten sich an ihnen vorbei.
    »Auf behördliche Anordnung hin wurde das Thema aus dem Lehrplan gestrichen. Was ich dir aber eigentlich sagen wollte – es ist die letzte Unterrichtsstunde. Kurz danach wird die Schule menschenleer sein. Du musst zu mir ins Lehrerzimmer kommen.«
    Noch immer raunte Caterina Knüttelvers ihre Anweisungen wie aufrührerische Geheimbotschaften in Palas Ohr. »Haben Sie etwas über die Wortfresser herausgefunden?«, flüsterte Pala aufgeregt.
    »Pscht!«, machte Caterina Knüttelvers und blickte sich ängstlich um. »Nicht so laut! Ja, ich bin auf etwas gestoßen. Bei meiner zweiundneunzigjährigen Urgroßmutter im Keller. Es ist ungeheuerlich! Dein Verdacht in Bezug auf Silencias Namen ist…« Die Lehrerin verstummte. Das Wort schien ihr im Halse stecken geblieben zu sein.
    Pala sah sie gespannt an. »Was ist damit?«
    Caterina Knüttelvers würgte, als hätte sie eine mächtige Kröte verschluckt. Ihr Gesicht lief noch roter an. Nur ein Krächzen entwich ihrem Hals. Pala fürchtete schon, die Lehrerin habe ein heftiger Anfall von Sprachschwund getroffen, aber dann kamen doch wieder verständliche Worte hervor.
    »Der Name – Silencia, meine ich – bedeutet ›Schweigen‹.«
    »Das ist doch nicht neu.«
    »Aber alles andere… Damals, als du zu mir kamst… Was ich zu dir gesagt habe, ist -sinn.«
    »Sinn?«
    »Nein, -sinn.«
    Die Stirn der Schülerin krauste sich in Ratlosigkeit. War sie nun schwer von Begriff oder drückte sich die Lehrerin so unklar aus? Ehe Pala dem merkwürdig verschluckt klingenden »-sinn« auf den Grund gehen konnte, läutete die Schulglocke den Unterricht ein.
    »Lass mich dir nach dem Diktat alles erzählen. Du wirst staunen!«, raunte Caterina Knüttelvers und entschwand durch die Glastür ins Schulgebäude.
     
     
    Eine Nachschrift war das Letzte, was Pala jetzt gebrauchen konnte. In ihrem Kopf hagelte es Fragezeichen. Was mochte Caterina Knüttelvers herausgefunden haben? Welche Entdeckung hatte die sonst immer so ausgeglichene Lehrerin derart in Aufregung versetzt? War sie der Ursache des merkwürdigen Sprachschwunds auf die Spur gekommen?
    In Silencia vertraten mittlerweile mehrere voneinander unabhängige Kommissionen den Standpunkt, die seltsame Verflüchtigung der Worte werde von einem, hauptsächlich von Stechmücken übertragenen, Virus verursacht. Obwohl zu den jüngsten Opfern ausgerechnet einige Herren aus diesen Komitees gehörten, ließ sich der Optimismus der Fachwelt kaum durch die bisher nullprozentige Heilungsrate

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