Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
jeder halben und vollen Stunde brachen Kontrollgänger von dem inzwischen stark erweiterten Wachhaus zu einer Runde um die Grenzmauer auf. Manchmal kam es Pala so vor, als habe Zitto die Truppe des ehemaligen Stadttheaters in neue Kostüme gesteckt, um sie hier einen Tausendakter mit dem Titel »Die unendliche Bewachung des Nichts« aufführen zu lassen.
Seit jener nächtlichen Begegnung mit Bürsten-Carlo und dem schreckhaften Wortklauber war bereits ein knapper Monat vergangen, als Pala ihren Ausguck in der Stadtbücherei aufgeben musste – die Oberbibliothekarin hatte Verdacht geschöpft. Das Misstrauen der Stadtbediensteten galt nicht etwa Palas Interesse für die Vorgänge auf der anderen Seite des Platzes, sondern jenem für Bücher. Wie konnte ein Mädchen sich derart in Worten verlieren? Die Hüterin der Bücher nahm ihre hoheitlichen Aufgaben sehr ernst.
»Ich habe dich beobachtet. Wenn du den Versuch unternehmen würdest, deine Nase in Frühlingsgedichte, Sprachlehrefibeln, Schriftstellerbiografien oder andere nicht jugendfreie Machwerke zu stecken, dann könnte ich deine häufigen Besuche ja noch einer gewissen Gier nach verbotenen Früchten zugute halten. Aber abgesehen von diesen Sammlungen völlig unnützer Sagen, die sonst nur von ortsfremden Forschern ausgeliehen werden, kann ich dir nichts vorwerfen.«
»Ist das denn nötig, um hier lesen zu dürfen?«
»Natürlich nicht«, zischte die Oberbibliothekarin. »Ich wollte dir ja nur…«
»Einen Strick drehen?«
»Nimm dich in Acht, Kleine! Ich könnte dich trotzdem melden.«
»Weil ich Tierbücher lese?«
»Deine Wissbegierde in Sachen Blutsauger ist mir nicht entgangen. Mädchen deines Alters sollten besser Pferdebücher…«
»Ich habe noch nie von einem Pferd gehört, das andere Lebewesen anfällt und sie aussaugt.«
»Das ist es ja gerade!«, schrie die Oberbibliothekarin. Ihre Nerven lagen nun blank. »Deine Art von Lesewut kommt mir irgendwie… krankhaft vor.«
»Nur weil ich nicht mag, was Sie mögen?«
»Ich schlage vor, du gehst jetzt besser.«
»Ja«, sagte Pala, »ich habe sowieso schon genug gesehen.«
Das Scharmützel mit der Oberbibliothekarin und der anschließende Rausschmiss aus der Bücherei schmerzten Pala wenig. Manchmal, dachte sie, muss man den Menschen einen Spiegel vor Augen halten, damit sie sich selbst erkennen können. Und außerdem glaubte sie, nach vier Wochen fast täglicher und teilweise sogar nächtlicher Beobachtungen ohnehin genug über Zittos Schutzmannschaft zu wissen. Doch der Tag war für Pala noch nicht zu Ende. Als der Vollmond bereits über die Dächer der Stadt geklettert war, erlebte sie zu Hause einen Wortkrieg, der alles bisher Dagewesene in den Schatten stellte.
Die Luft in der Küche war zum Gerinnen dick. Abende, an denen man sich ein wenig zankte, sich danach anschwieg und irgendwann wortlos zu Bett ging, war Pala gewohnt. Doch hier ging es um mehr. Der Auslöser des Wortgefechts war Mutters Arbeit in Zittos Stammhaus gewesen. Ihr Abteilungsleiter wollte sie ab sofort auf seinen geschäftlichen Reisen als Assistentin mitnehmen. Er war ziemlich häufig unterwegs. Vater hatte die Neuigkeit nicht gut aufgenommen. Ob ihn nun Eifersucht oder echte Sorge um die künftige Erziehung seiner Kinder so in Rage brachte, konnte Pala nur vermuten, jedenfalls explodierte er auf höchst eindrucksvolle Weise: Zuerst verfärbte sich sein Gesicht rot, wobei die Adern an seinem Hals gefährlich anschwollen und seine Augen wie bei einem Ertrinkenden stierten; dann brachen Worte aus ihm hervor, die Pala noch nie gehört hatte.
Schlag auf Schlag wurden größere Geschütze aufgefahren. Zunächst zählten sich die Eltern in enormer Lautstärke gegenseitig ihre Fehler auf. Jede einzelne Äußerung schien sorgfältig darauf abzuzielen, den anderen lebensbedrohlich zu verletzten. Als ihnen die Munition auszugehen drohte, schossen plötzlich Worte wie »Trennung« und »Scheidung«, feurigen Pfeilen gleich, durch den Raum.
Wie üblich plapperte der Papperla-Papagei pausenlos dazwischen. Nina stand in der Tür zum Flur, Kuschel, ihren flauschigen Teddybären, im Schwitzkasten und plärrte vor sich hin. Pala wischte ihrer Schwester mit einem Taschentuch Rotz und Wasser aus dem Gesicht und kam sich vor wie der einzige Mensch, der in Silencia noch nicht den Verstand verloren hatte. Und dann platzte ihr der Kragen.
»Seid ihr denn völlig verrückt geworden?«, schrie sie ihre Eltern an.
Überraschenderweise
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