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Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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lassen, wo sie in Ruhe über ihre missliche Lage nachdenken konnte. Plötzlich entdeckte sie in den Schatten der Kolonnade eine Gestalt.
    Sofort fielen ihr die riesigen Insekten ein, die Nachtschwärmer, die sie schon fast vergessen zu haben glaubte. Hatte der Mond damals nicht genauso hell…?
    Auf leisen Sohlen schlich sie ein Stück näher an den Schemen heran. Er rührte sich nicht. Endlich erkannte Pala, wer sich da so eng an die Mauer schmiegte und ruhig vor sich hin schlummerte. Es war ein Mensch, vermutlich ein Landstreicher. Früher hatte man die Vertreter ihrer Zunft des Öfteren in Silencia gesehen. Einige von ihnen kannte Pala sogar persönlich und kaufte ihnen manchmal eine Bürste ab oder ließ sich von ihnen, nachdem der Vagabund noch eine Geschichte draufgelegt hatte, eine Schere schärfen. In letzter Zeit waren die »obdachlosen Taugenichtse«, so die neue amtliche Sprachregelung, jedoch nur noch selten anzutreffen. Gerade wollte sich Pala entspannen, als ein lautes Brummen sie zusammenschrecken ließ. Zu einem Eiszapfen erstarrt blieb sie in den Schatten einer Arkade stehen und starrte auf das grausige Geschehen.
    Über dem Schlafenden erschien ein dunkles Wesen. Seinen plumpen Leib mit den wie nutzlos herabbaumelnden Gliedmaßen trug eine schwirrende Flügelwolke, von der das surrende Geräusch ausging. Es war ein Nachtschwärmer! Pala konnte vor Furcht kaum atmen.
    Bis jetzt hatte der Brummer sie nicht bemerkt. Er senkte sich langsam über den am Boden liegenden Landstreicher herab. Als er schon beinahe auf dem Schlafenden gelandet war, näherten sich zwei feingliedrige Hände seinem Gesicht. Finger, die Pala an Spinnenbeine erinnerten, krabbelten über sein Kinn, den Mund, die Nase und die Augen.
    Wie kleine Saugnäpfe kamen ihr die dicken Enden der sonst so zerbrechlich wirkenden Gliedmaßen vor. Gerade in diesem Moment schienen sich die Fingerkuppen auf der Stirn des immer noch Schlummernden festzusaugen.
    Durch Palas klammen Geist brannte sich die Glut eines entsetzlichen Gedankens: Genau so mussten die Nachtschwärmer Nonno Gaspare die Sprache aus dem Gehirn gesaugt haben und vermutlich auch Caterina Knüttelvers sowie all den anderen armen Menschen. Diese schreckliche Erkenntnis und das kaum minder furchtbare Bild vor ihren Augen ließen Palas angststarren Panzer förmlich zerplatzen.
    »Ein Wortklauber!«, schrie sie und kreischte auch schon auf den Nachtschwärmer zu wie ein Eisenbahnzug, der eine Notbremsung hinlegt.
    Das flirrende Nachtgeschöpf erschreckte sich. Es schoss nach oben, krachte gegen die Decke des Säulenganges und fiel wieder nach unten, nur um Haaresbreite neben das Gesicht des friedlich schlummernden Landstreichers. Während Pala noch mit fuchtelnden Armen auf den Wortklauber zurannte, rappelte sich dieser erstaunlich schnell wieder auf und ehe sie ihn erreichen konnte, surrte er in Richtung Mond davon. Atemlos blickte sie dem unheimlichen Nachtgeschöpf hinterher. Irgendwo über dem Schlossgarten verlor sie es aus den Augen.
    Mit einem Mal hörte sie ein Schmatzen in der Nähe. Rasch lief sie zu dem sich am Boden räkelnden Schläfer. Endlich war er aufgewacht.
    »Was soll denn das -schrei?«, nörgelte der reichlich verwildert aussehende Stromer, während er sich stöhnend aufsetzte. Sein Haar strebte in alle Richtungen und seine Kleidung sah arg mitgenommen aus. Irgendwie kam er Pala bekannt vor. Noch ziemlich verschlafen klingend, setzte er sein Gezeter fort: »Kann man denn nicht mal in diesem -mäuer den Schlaf der -rechten finden? -rade einschlafen und schon wieder -weckt.«
    Palas Gehör war mittlerweile darauf geschult, auch kleinste Anzeichen von Sprachverflüchtigung zu erkennen. »Klarer Fall von Silbenschwund«, deutete sie daher zielsicher die auffällig lückenhafte Ausdrucksweise des Tippelbruders.
    »Jetzt brat mir einer einen Storch«, überging der die ihm unverständliche Bemerkung des Mädchens. Er rappelte sich vom Boden auf – sehr viel größer wurde er dadurch allerdings nicht –, nahm Pala bei der Hand und zog sie aus den Schatten des Säulengangs, wodurch sich beide nun genauer ansehen konnten. Nach kurzer Musterung schien ihm ein Licht aufzugehen. Er klopfte sich vergnügt auf den Oberschenkel und während sich von dort eine kleine Staubwolke mit dem Wind davonmachte, fragte er: »Bist du nicht die Kleine von drüben? Na, du weißt schon… Aus der Alexandrinergasse, -rade ist es mir wieder ein -fallen.«
    »Ja, ich heiße Pala. Und Sie

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