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Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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braucht zum Heilen.
    Wie Heimweh quillt, sobald davon wir eilen,
    fehlt Kostbares erst dann uns, wenn wir scheitern.
     
    Zum Himmel strebt der Narr auf Jakobsleitern,
    doch leere Reden lassen ihn verweilen.
    Selbst in Gefahr vor lauter Vorurteilen
    hört er nicht hin, bleibt bei den Spaßbereitern.
     
    So sprengt die Einfalt selbst die dicksten Ketten,
    taktiert nur dumm, fühlt sich dabei noch schlauer,
    treibt Freunde fort – wer kann zum Schluss noch retten?
     
    Die Einsamkeit hat wohl die dickste Mauer,
    dort darbt der Narr auf Bergen von Skeletten –
    den Tod erfreut, der still liegt auf der Lauer.
     
    Was die Kälte bis dahin nicht geschafft hatte, bewirkte schon der erste Vers des Sonetts: Er ließ Palas Körper erzittern. Dieser merkwürdige Staffellauf von Gedichten zog sich jetzt schon über Jahre hin. Er hatte begonnen, als Nonno Gaspare verstummt war, und er dauerte bis zu dieser Herbstnacht an. Was bedeutete das alles? Es bedurfte doch keiner ständigen Wiederholung, um sich der Schmerzlichkeit jener Weisheit über die Wunden reißenden Zornesworte bewusst zu werden! Und Heimweh nach diesem Zuhause, das nicht mehr ihr eigenes war, empfand Pala schon gar nicht. »Mich kannst du mit deinen schönen Worten nicht umgarnen, aber unter den Maden und modernden Gebeinen findest du vielleicht ein dankbareres Publikum«, flüsterte Pala in Richtung des Sonetts und lachte bitter. »Na, wenigstens den Tod erfreut’s, der still liegt auf der Lauer.«

 
     
     
Den Tod erfreut’s, der still liegt auf der Lauer,
wenn Lebensangst zerfrisst deren Gebeine,
die missverstanden lässt man ganz alleine,
in Abgeschiedenheit und tiefer Trauer.
 
Dies Pesthaus hat wohl andere Erbauer
als jene, die dort liegen an der Leine.
Mit ihrem Hass sie kommen nicht ins Reine,
er fesselt sie an die Gefängnismauer.
 
Ganz wenigen gelingt es zu entkommen,
zu finden Schutz als Gleiche unter Gleichen
im Kreis von Freunden, die einander frommen.
 
Verborgen still sie harren unter Eichen.
Wird Bruderliebe von dort mitgenommen,
die Offenheit lässt den Verschwörer weichen.

 
    Den Tod erfreut’s, der still liegt auf der Lauer! Warum darf sogar der sich freuen und ich nicht?« Palas Tränen waren getrocknet. Sie hatte sich, ohne es zu merken, in Rage geredet, was die empfindliche Kälte wenigstens für den Augenblick ein wenig erträglicher machte. Der Friedhof lag schon weit hinter ihr. Wohl nur ein letzter Rest von Achtung vor den Hingeschiedenen mochte die Verantwortlichen der Stadt davon abgehalten haben, das Sonett vom Eingang des Totenackers zu entfernen. Oder steckte dahinter eine Absicht Zittos, um Pala auf diese Weise ein weiteres Mal zu verletzen?
    Ein völlig abwegiger Gedanke, meinte dazu ihr Verstand. »Du spinnst, Pala. Vor lauter Heulen ist dir dein Gehirn eingetrocknet.« Mit pausenlosem Gemurmel versuchte sie ihre Angst zu vertreiben. Die ganze Stadt kam ihr wie ein Gräberfeld vor, verlassen und leblos. »Ihr hättet euch ruhig am frühen Morgen streiten können!«, zeterte sie, als könnten ihre Adoptiveltern sie hören, und stieß mit dem Fuß eine leere Plapperperlenschachtel aus dem Weg.
    Nonno Gaspare hatte immer gesagt, Worte besäßen große Macht. Die Zunge, gewissermaßen das Katapult, mit dem man sie in die Ohren der Zuhörer schleudere, werde sogar in der Heiligen Schrift als kleines, aber mächtiges Organ beschrieben. Sie gleiche dem winzigen Funken, der einen riesigen Wald in Brand setzt, oder dem kleinen Ruder, das ein großes Schiff lenkt. Diese Macht hatte Pala ja nun kennen gelernt. Es war eine entzweiende, eine furchtbare Kraft, die in der Zunge steckte.
    Palas zarter Hain halb kindlicher, halb erwachsener Gefühle war in dieser Nacht zweifellos in Brand geraten. Benommen stolperte sie durch leere Gassen und über verlassene Plätze. Irgendwann stieß sie auf die Piazza dei Poeti. Die Glocken im Uhrenturm begrüßten sie mit vier hellen Schlägen. Dann folgte ein einzelnes dunkles Dong! Pinien standen vor dem Rathaus keine mehr. Entwurzelt vom neuen Zeitgeist teilten sie längst das Schicksal der alten Männer. Schwarze Wahlplakate dienten derweil als Lückenbüßer. Auf ihnen prangte ein großes rotes Z – gesichtslos bewarb sich der Kandidat um das höchste Amt der Stadt. Unter dem leuchtenden Buchstaben stand in weißer Schrift eine eindringliche Botschaft.
     
    Gebt Zitto eure Stimme – alle!
     
    Pala bekam eine Gänsehaut und schalt sich ein dummes Schaf. Sie hätte sich zum Schutz gegen

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