Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
erhob.
»Nicht!«, schrie deren Mutter entsetzt.
»Nina trifft doch keine Schuld!«, rief der Vater.
»Nein, sie nicht«, fauchte Pala und schon fuhr die Feuerfaust hernieder, packte den Teddybären – »Aber diesen Quälgeist da!« – und schleuderte ihn gegen den Papagei, der gerade die aktuellen Nachrichten zum Besten gab.
»In Silencia wurde heute eine neue Sonderschule eröffnet, um sich der speziellen Bedürfnisse sprachbehinderter Kinder anzu-…«
Volltreffer! Einen Moment lang sah es tatsächlich so aus, als wollte Papperlapapp den Plüschbären verschlucken. Kuschels Arm steckte tief im Schnabel des grünbunten Papageis. Der klammerte sich mit einer Kralle an seinen Sitzbalken, die andere kreiste ziellos in der Luft herum. Dann verlor er das Gleichgewicht und stürzte mit einem gurgelnden Geräusch zu Boden. Und dort zersprang er in Hunderte von Federn, Zahnrädern, Drähten und Stiften.
Vier Augenpaare starrten ziemlich verblüfft auf das federngespickte Häuflein von Teilen.
»Er… Er ist nur eine Maschine?« , stammelte der Vater.
»Wir haben monatelang einen Apparat mit Plapperperlen gefüttert! Ich glaube, ich werde ohnmächtig«, stöhnte die Mutter.
Nina lief zu dem Trümmerhaufen, der einmal ein Papagei gewesen war, und entriss seinem leblosen Schnabel beherzt den Bären. »Kuschel ist noch ganz«, freute sie sich.
Pala schüttelte grimmig den Kopf und sagte: »Das Ding hat uns alle an der Nase herumgeführt. Ohne Zittos Geschenk wären wir vielleicht noch eine Familie.«
Nina und Kuschel ließen sich von der Mutter auf den Arm nehmen. Die betrachtete Pala mit einem Ausdruck, in dem Zorn, aber auch Bedauern lag. »Jetzt geh endlich auf dein Zimmer«, presste sie mühsam beherrscht hervor. »Wir reden morgen über alles. Heute ist vielleicht ein Unglück geschehen, aber es ist nicht das Ende vom Leben.«
Ein Wort im Zorn reißt Wunden, die schlimm eitern. Nie hätte Pala gedacht, wie schmerzhaft die Wahrheit hinter diesem Sinnspruch sein könnte. Du bist nicht mein Kind! Diese Feststellung hatte sie wie ein Speer durchbohrt. Pala wollte nicht bis »morgen« in ihrem Zimmer warten, sich nicht eine Nacht lang schlaflos auf dem Bett hin und her werfen, um dann irgendeinen Richterspruch hinzunehmen wie jemand, den man zum Tode verurteilte: Ich nehme Nina und du bleibst beim Vater; wir geben dich in ein Erziehungsheim; es bleibt alles, wie es ist; das Leben geht weiter – egal was ihre Eltern sagen würden, um sich aus dieser Lage herauszuwinden, für Pala musste es hohl klingen, nicht glaubhaft. Es war zu spät. Wie hatte ihre Adoptivmutter es einmal ausgedrückt? »Was verloren geht, bleibt verloren.« O wie Recht sie doch hatte! Nichts würde mehr so sein wie früher. Pala fühlte sich ausgestoßen, ungeliebt, allein gelassen…
Auf ihrem Zimmer warf sie die Tür hinter sich ins Schloss, taumelte zum Bett und ließ sich hineinfallen. Ihr war speiübel. Schluchzend vergrub sie ihr Gesicht ins Kopfkissen und tränkte es mit ihren Tränen. Niemand klopfte an ihre Tür, keiner interessierte sich für ihren erbärmlichen Seelenzustand. Erst ganz zum Schluss ist, wer Geduld hat, schlauer. Selbst Papperlapapp hatte sich – wie merkwürdig! – dieser Weisheit bedient, bevor er zu Bruch gegangen war. Besser als je zuvor glaubte Pala nun die Worte aus ihrem Geburtsgedicht zu verstehen.
Irgendwann war Ruhe im Haus eingekehrt. Endlich konnte Pala ihren Entschluss in die Tat umsetzen. Sie öffnete das Fenster. Über dem Dach des Nachbarhauses hing der Mond und blickte mit rundem Gesicht kühl zu ihr hinab. Ihn schien wenig zu interessieren, was in der Alexandrinergasse geschah.
Nachdem Pala hinausgeklettert war, taumelte sie ziellos durch die nächtlichen Straßen Silencias, als fliehe sie vor ihren eigenen Gedanken. Doch diese holten sie immer wieder ein. Ihre ganze Aufmerksamkeit richtete sich nach innen, nicht einmal die Kühle der Nachtluft drang bis zu ihrem Bewusstsein vor. Wie konnte eine ausgebrannte Seele nur solche Qualen verursachen? Immer wieder schossen ihr Tränen in die Augen. Irgendwann stieß sie an eine schmiedeeiserne Pforte, die von einem steinernen Torbogen überragt wurde. Sie trocknete sich mit ihrem hellen Sommerkleid die Augen, weil sie alles nur verschwommen sah. Nach einer Weile konnte sie, dank des Vollmonds, endlich die Inschrift über dem Friedhofseingang lesen.
Ein Wort im Zorn reißt Wunden, die schlimm eitern,
verletzt sehr schnell, was lange
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